Dieser Beitrag erschien zuerst bei den Störenfriedas.
Ein Beitrag von Carolin Werner, Huschke Mau und Manuela Schon
Gestern erschien ein kurzer Text von Felicitas Schirow, in welchem sie beschrieb, „mal mehr und mal weniger gerne als Prostituierte gearbeitet“ zu haben. Seit 10 Jahren sei sie dieser Tätigkeit nicht mehr nachgegangen, sehe sich jetzt aber wegen großer finanzieller Probleme und Problemen mit den Behörden nicht mehr anders in der Lage, als diese wieder aufzunehmen. Sie habe seit 2015 keine Einnahmen mehr und warte seit einem Jahr (!) auf beantragte Leistungen aus „Hartz IV“. Das Jobcenter unterstelle ihr Einnahmen, die sie nicht habe, prüfe ewig und lehne alles ab. Deswegen sehe sie sich nun gezwungen, wieder als Escort zu arbeiten, da sie sonst immer mehr Schulden mache, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie schreibt: „Hilfe, ich bin eine Zwangsprostituierte (…) der Staat zwingt mich in die Prostitution.“ und relativiert später, sie mache diesen Job gerne, möchte aber selber entscheiden, wann und ob.
Es gibt als Feministin und Abolitionistin sehr viele Gründe Felicitas Schirow, geborene Weigmann, nicht zu mögen. Sie ist…
… eine Frau, die Jahrzehnte an der Prostitution anderer verdient hat.
… eine Frau, die seit vielen Jahren Lobbyismus für die Sexindustrie betreibt und aktuell eine Verfassungsklage von Bordellbetreibenden, Freiern und prostituierten Personen gegen das neue „Prostituiertenschutzgesetz“ als Sprecherin vertritt, damit die liberalen und ausbeuterischen Prostitutionsmärkte in Deutschland so wie bisher erhalten bleiben.
… eine Frau, die Prostitution als „Grundbedürfnis des Mannes“ und als „Menschenrecht“ definiert.
… eine Frau, die gerne auch mal AfD-Posts auf ihrer Seite teilt, freudestrahlend mit AfD-Gründer Bernd Lucke im Titelbild posiert und seit einiger Zeit für dessen marktradikale AfD-Folgepartei ALFA/LkR die Werbetrommel rührt und selbst auf Listen dieser Partei kandidierte.
Felicitas Schirow ist eine Frau, die man als „Handmaiden of Patriarchy“ bezeichnen kann. Mit diesem Begriff sollte man nicht inflationär um sich schmeißen, bei ihr ist er jedoch passend.
Ja, sie ist eine Täterin: Ihr Wirken hatte und hat negativen Einfluss auf das Leben vieler Frauen, die Prostitution nicht als “Beruf wie jeden anderen” ansehen, und die zu den 9 von 10 Frauen in der Prostitution gehören, die lieber gestern als heute aussteigen würden.
Als (Radikal-)Feministinnen können wir jedoch auch bei der bekannten Bordellbetreiberin Schirow, die bundesweit Bekanntheit erlangte, allzu bekannte Muster erkennen, auch wenn wir trotz ihrer jahrelangen Medienpräsenz nur sehr wenig von ihrer Biographie erfahren. Die Lebensgeschichte der Felicitas Schirow zeigt an vielen Stellen staatliches und gesellschaftliches Versagen. Jeder Teil ihres Werdegangs ist kein Einzelfall, sondern findet sich in zahlreichen anderen Biographien prostituierter Frauen wieder, denen von der Gesellschaft nichts leicht gemacht wurde, außer dem Weg in die Prostitution.
Felicitas Schirow gibt an, als junges Mädchen das Buch von Josefine Mutzenbacher gelesen zu haben und daraufhin den Beschluss gefasst zu haben eine berühmte, wenn nicht die berühmteste, Prostituierte zu werden.
Als Jugendliche führte ihr Weg zur Disco am Straßenstrich in der Berliner Kurfürstenstraße vorbei, wo ihr, dem Mädchen aus einfachen Verhältnissen, regelmäßig Geld von Männern für Sex angeboten wurde.
“Ich war damals [16], weltfremd und fasziniert von all dem. Ich bin immer angesprochen worden, wenn ich aus der U-Bahn kam, ich war ja aufgetakelt, für die Disco. Ich habe 600 Mark verdient, als Krankenpflegeschülerin. Auf der Kurfürstenstraße riefen mir die Männer hinterher: Ich geb’ dir 50, 100, 200 Mark! Ich hab immer gedacht: Wenn du Ja gesagt hättest, hättest du deinen halben Monatsverdienst. Irgendwann hab ich Ja gesagt”
Schirow erlernte einen sozialen Beruf, Krankenpflegehelferin, der typischerweise von Frauen ausgeübt wird und womit keine finanzielle Sicherheit bzw. ein von Männern unabhängiges Leben erwirtschaftet werden kann.
Auch schildert sie, dass es die Kaninchenfelljacke einer Straßenprostituierten war, die bei ihr den Wunsch danach hegte, sich so etwas auch leisten zu können.
So stieg sie also im jungen Alter von 16, als Minderjährige, in die Straßenprostitution ein und ging auf Parkplätzen und in den Wohnungen der Freier der Prostitution nach, bis sie sich mit 17 eine eigene Wohnung für diesen Zweck anmietete – die ihr auch von Betreibern vermietet wurde.
2007 sagt sie sehr ehrlich rückblickend über diese Zeit: “Die Freier waren auch nicht alle übel”. Und weiter: “Schön war es an der Kurfürstenstraße nie, mit dem Drogenstrich, es ist schon traurig, das alles mit anzusehen”
Als Begründung für ihren Einstieg in die Prostitution gab sie weiterhin an:
„Man bekommt Anerkennung, Komplimente. Das hebt ungemein das Selbstbewusstsein. Man wird begehrt.”
Von ihrem frühen Einstieg erzählte sie in zahlreichen Interviews offen, was von den Medien nicht weiter kommentiert wurde. Bei Minderjährigen kann grundsätzlich niemals von freiwilliger Prostitution gesprochen werden und der Gesetzgeber ist für ihren Schutz vor Prostitution verantwortlich. Das Einstiegsalter in die Prostitution liegt bei 14 – 17 Jahren, wie Karo e.V. feststellte. Dass sich unsere Gesellschaft aber daran gewöhnte, anstatt aufzuschreien und zu fragen, wie viele Männer in unserer Mitte sexuelles Interesse an Minderjährigen haben, ist fatal.
Auch ihre Begründung, wie sie in die Prostitution kam, wirft kein gutes Licht auf unsere Gesellschaft. So konnte sie als Minderjährige bereits auf alltäglichen Wegen sehen, wie sich prostituierte Frauen für Geld Männern anboten und diese die Macht hatten Frauen auszuwählen. Die offene Darstellung der Frau als käufliches Geschlecht hat die Folge, dass das die Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern der Gesellschaft als normaler Umstand anerzogen wird. Die sexuellen Belästigungen und Geldangebote der Männer wertete Schirow als Kompliment und Anerkennung, anstatt die Abwertung und Beleidigung darin zu erkennen. Die logische Konsequenz ist es wenn Mädchen anerzogen wird, dass ihr Wert davon abhängt, wie attraktiv Jungen sie finden.
Wenn sie erklärt, dass sie die Luxusartikel der Prostituierten bewunderte und so etwas auch haben wollte, schreien die Kritiker gleich „Aha. Es ging natürlich nur um das schnelle Geld.“ Doch das ist zu einfach gemacht. Jedes Kind ist überzeugt, dass ihm im Leben alle Wege offen stehen. Doch mit dem Erwachsenwerden stellt man fest, dass man eben nicht alles erreichen kann. Auch dann nicht, wenn man sich mehr anstrengt und härter arbeitet. Der Wunsch nach einem Luxusartikel ist symbolisch für den Wunsch, die eigene Klassenzugehörigkeit zu verändern und nach oben zu kommen. Prostitution scheint dies zu ermöglichen, doch es ist nur eine Illusion.
Wir wissen nichts über Schirows Elternhaus und können nur spekulieren, aber der frühe Wunsch Prostituierte zu werden, das Streben nach Reichtum und Anerkennung, sowie die Tatsache, dass sie in einem so jungen Alter offensichtlich ohne Intervention von Eltern und Behörden der Prostitution nachgehen konnte, lassen eine dysfunktionale Familienstruktur vermuten.
Zwischenzeitlich war sie in einem Büro als Sachbearbeiterin angestellt. Als die Beziehung mit ihrem damaligen Freund in die Brüche ging, stieg sie wieder in die Prostitution ein und gründete zunächst einen Begleitservice, mietete später in der Brandenburgischen Straße 73 in Berlin in einem Hinterhaus Wohnungen zur Vermietung an prostituierte Frauen an und eröffnete 1997 im Vorderhaus das “Cafe Pssst!”, welches als Anbahnungsstätte für Prostitution diente. Mehr und mehr zog sie sich aus der aktiven Prostitution zurück, ging nach eigenen Angaben nur noch manchmal mit Männern auf Zimmer, wenn diese ihr ein gutes Angebot machten.
Das System Prostitution bedeutet erfahrungsgemäß: Der Ausstieg aus der Prostitution ist schwer. Vielen Frauen gelingt der Ausstieg aus der Prostitution und aus dem Milieu nur nach vielen Anläufen und nicht immer nachhaltig. Finanzielle Krisen sind wegen schwer erklärbaren Lücken im Lebenslauf und dem Kampf mit den erlittenen Traumatisierungen vorprogrammiert. Und wenn gar nichts mehr geht, der Kühlschrank leer ist, die Miete nicht bezahlt werden kann, ist der Schritt zurück in die Prostitution nicht groß. Genau deshalb braucht es so dringend nachhaltige und individuelle Ausstiegshilfen, die es in Deutschland schlicht nicht gibt. Viele Frauen enden deshalb auf Dauer im Sozialsystem, mit finanzieller Unterstützung, die schwerlich existenzsichernd ist. Der Ausstieg aus dem Milieu ist darüber hinaus in aller Regel verbunden mit der Aufgabe jeglicher sozialer Kontakte und damit auch jeglicher Auffangstruktur. Frau muss sich bewegen in einem vorurteilsbeladenen Umfeld, welches dazu tendiert sie und ihre Situation nicht zu verstehen oder sie gar selbst dafür verantwortlich zu machen – das ist schwer, verdammt schwer. Domenica Niehoff, eine von Deutschlands bekanntesten Huren, prognostizierte der Mehrheit der Frauen in der Prostitution ein Ende in Armut, und starb selbst verarmt und einsam, als “Sozialfall”.
Einfacher sind häufig der Ausstieg IM Milieu und der Wechsel auf die Seite der ProfiteurInnen. Das Anmieten einer Wohnung und die Untervermietung von Zimmern an andere prostituierte Frauen oder die Eröffnung eines eigenen Betriebs und der Rückzug aus der aktiven Prostitution in die Betreiberinnenrolle sind Klassiker. Daran attraktiv: Das vertraute Umfeld, die Kontakte, die Orientierung, bleiben erhalten. Das Wertesystem ebenfalls, unter “Gleichen” trifft das vernichtende Urteil der “Soliden” weniger hart.
Nimmt dies die Schuld von Umsteigerinnen? Sicherlich nicht, es wäre auch unfair jenen gegenüber die einen anderen Weg wählen.
Wäre es falsch Frauen im System der Prostitution auf ihrer Täterinnenrolle zu reduzieren, ohne die Wege, die sie dort hingebracht haben, und die Faktoren, die den echten Ausstieg erschweren, mit zu analysieren? Ja!
Reich werden nicht die prostituierten Frauen, sondern die Ausbeuter. So wechselte auch Schirow zeitweise die Seiten und machte im Milieu ein Stück weit Karriere. Als die Stadt Berlin sich im Jahr 1999 anschickte ihren Betrieb zu schließen, da dieser “der Unsittlichkeit Vorschub“ leiste, zog Schirow mit der Anwältin Margarete von Galen, und unterstützt durch Statements von Hydra e.V,, Aids-Hilfe und anderen, vor Gericht und bekam unter Verwaltungsrichter Percy McLean im Dezember 2000 Recht. Begründet wurde das Urteil damit, dass sich das Werteverständnis der Gesellschaft verändert habe und Prostitution nun Mal gesellschaftliche Realität in Deutschland sei. Damit entschied ein deutsches Gericht erstmals, dass ein Bordell legal betrieben werden darf. Zuvor waren die Betriebe nur stillschweigend geduldet worden.
Noch vor diesem Urteilsspruch hatte Familienministerin Christine Bergmann (SPD) einen Gesetzesentwurf angekündigt, in dem Prostitution nicht mehr als sittenwidriges Gewerbe gelten solle. Sicherlich hat das von Schirow erkämpfte Urteil und dessen Begründung einen Einfluss auf die letztliche Entscheidung der Politik gehabt. Es ist bekannt, dass Schirow von der Politik angehört wurde und mit Bergmann und Grünen-Sprecherin Kerstin Müller auf das Gesetz mit Sekt anstieß. Schirow verdiente an der Prostitution anderer Frauen und mit der Beeinflussung des Gesetzgebungsverfahren trägt sie eine Mitverantwortung daran, dass zahlreiche Frauen ins Elend getrieben wurden, während andere, wie sie selbst zeitweise, reich wurden. Der politische Wille zur Liberalisierung der Prostitutionsmärkte kann jedoch sicher nicht auf eine bloße Was-bleibt-uns-anderes-übrig-Reaktion auf den von Schirow erstrittenen Richterspruch verkürzt werden.
Schirow erlitt zwei Fehlgeburten und wurde nach einer Bauchfellentzündung im Alter von 20 Jahren unfruchtbar. Ihren lang gehegten Kinderwunsch erfüllte sie sich im Alter von 50 Jahren mit Hilfe einer – in Deutschland verbotenen – Eizellenspende in Tschechien für 50.000 Euro Behandlungskosten (Eizelle einer von ihr ausgewählten Frau, Samen ihres Mannes). Aus unserer Sicht ist die Annahme der Eizellspende eine nicht tolerierbare Ausbeutung. Allerdings wird es argumentativ schwierig, einer Frau mitzuteilen, dass ihr Körper mit gesundheitlichen Risiken als Ware zur Nutzung in der Prostitution verkauft werden kann und gleichzeitig die Nutzung eines anderen Frauenkörpers mit deren gesundheitlichen Risiken verboten ist, da Menschen grundsätzlich nicht als Ware behandelt werden dürfen.
Die Ehe mit ihrem sechs Jahre jüngeren Mann, den sie als Kunden in ihrem Café kennengelernt hatte, scheiterte. Dem Vernehmen nach soll er sich die letzten Jahre, während sie sich um das Kind kümmerte, um den Barbetrieb gekümmert haben. Schirow blieb mit einem Schuldenberg zurück und äußerte gegenüber der Presse, sie habe nun die Nase voll von Männern:
„Ich musste den Männern immer Halt geben und nie umgekehrt.“
Im November 2015 wurde ihr Betrieb schließlich wegen Mietschulden zwangsgeräumt. Seit Frühjahr 2016 kämpft sie nach gegen das Jobcenter um existenzsichernde Leistungen. Sie lässt verlauten Strom und Gas in ihrem Zuhause seien zwischenzeitlich abgestellt worden.
Nun verkündet sie also aktuell, die existenzielle Not treibe sie zurück in die Prostitution und bezeichnet sich selbst als Zwangsprostituierte.
Mit 60 Jahren ist die Frau, die Teile ihrer Jugend, sowie ihr ganzes Erwachsenenleben im System Prostitution verbracht hat, also wieder dort angekommen, wo sie mit 16 anfing: Ganz unten. Offenbar ohne soziales Netzwerk, welches sie stützt.
Sie teilt das Schicksal mit vielen Armutsprostituierten aus Osteuropa, die alleinerziehend ein Kind großzuziehen haben. Ob es ihr bewusst ist, oder nicht: Das System Prostitution kann seinen „Bedarf“ nur mit Menschen wie ihnen decken.
Felicitas Schirow war Profiteurin an der Prostitution anderer. Nach dem Nordischen Modell würde sie dafür bestraft werden – und wir halten dies für richtig und wichtig.
Wenn man Prostitution wie wir als sexuelle Gewalt definiert, nämlich als ungewünschte sexuelle Handlungen, die materiell oder anders entschädigt werden müssen, dann ist auch eine Felicitas Schirow Opfer von sexueller Gewalt. Als solches darf sie weder unsere Häme, Schadenfreude oder Verachtung treffen.
Dass Frauen wegen der Verweigerung existenz- und lebenssichernder Bezüge auch in Deutschland in die Prostitution gezwungen werden, ist für uns nichts Neues. Seit Jahren sprechen AbolitionistInnen davon, dass auch Umstände zwingen können, und dass Armutsprostitution nicht als „freiwillig“ bezeichnet werden kann.
Wir begrüßen es ausdrücklich nicht, wenn Felicitas Schirow am eigenen Leib erfahren muss, dass ihre eigene Aussage „in Deutschland muss sich kein Mensch prostituieren. Wir sind alle abgedeckt, wir werden alle finanziell versorgt und keiner muss im Bordell arbeiten“ der Realitätsprüfung oft schlicht nicht standhält.
Felicitas Schirow hat, vermutlich unbewusst, mit ihrem aktuellen Statement unsere immer wieder vorgetragene These unterstützt, dass Prostitution aus finanzieller Not de facto Zwangsprostitution ist. Hartz IV ist für viele nicht der Weg aus der Prostitution, sondern vielmehr der Weg hinein. Fiktive Einkommensanrechnungen von prostituierten Frauen durch die Jobcenter wurden in der Vergangenheit mehr als einmal thematisiert. Die Haltung „Einmal Prostituierte, immer Prostituierte” macht auch vor den Behördenmitarbeiterinnen nicht halt.
Wenn jetzt bei Schirow und anderen auch noch der Groschen fällt, dass ethnisch diskriminierte Frauen, die in ihren Heimatländern von Profiteuren aus der existenziellen Armut rekrutiert werden, unter den gleichen ökonomischen Zwängen in Deutschland der Prostitution nachgehen, dann sind wir in der Debatte einen Riesenschritt weiter.
„Man muss Frauen helfen, die unter Zwang stehen“, sagte Schirow 2013 in einem Interview. Dieser Aussage kann nur zugestimmt werden und es ist völlig egal wie diese Frau heißt und was ihr persönlicher Hintergrund ist.
Dies bringt uns abschließend zu einem ernsten Thema: Unter dem von Schirow veröffentlichten Text ging es in der Diskussion heiß her. Freier, ProstitutionsbefürworterInnen und „SexarbeiterInnen“ wie AbolitionistInnen meldeten sich zu Wort.
Wir haben die Diskussion gelesen, heftig geschluckt und möchten jetzt und an dieser Stelle nicht darüber diskutieren, warum Prostitution frauenverachtend ist. Auch auf das übliche Freiergelurxe á la „Männer gehen nur zu Prostituierten, weil die ganzen bösen Feministinnen ihnen jegliches Selbstbewusstsein genommen haben“ gehen wir an dieser Stelle nicht ein. Thematisiert werden soll hier einzig der Umgang mit prostituierten Frauen.
Zunächst halten wir es für nicht sinnvoll, einer Frau in einer derartigen Notlage eine Diskussion darüber an die Backe zu nageln, ob Prostitution schlimm ist oder nicht. Fakt ist, dass Felicitas Schirow für sich beschlossen hat, dass sie KEINE ALTERNATIVE hat. Das ist genau das, was Aussteigerinnen immer wieder sagen: dass sie eingestiegen sind, weil sie keine andere Alternative gesehen haben.
Wenn eh nichts an der Prostitution vorbeiführt, weil alles andere heißt, zu verhungern oder obdachlos zu werden, ist es nicht notwendig, eine Frau darüber zu belehren, dass Prostitution schlimm ist. Eine Frau, die gerade keinen anderen Ausweg sieht als sich zu prostituieren darüber zu belehren, dass Freier furchtbar sind, führt einfach nirgendwohin. Erstens braucht man eine prostituierte Frau nicht über ihre eigene Prostitution zu belehren. Sie wird es besser wissen. Und zweitens nutzt ihr das Wissen darum, dass Freier zu bedienen traumatisierend ist, gar nichts in dem Moment in dem der Kühlschrank leer ist und sie vom Sozialstaat fallengelassen wird. Was soll sie anderes machen? Sich sagen: „Ach, Freier sind ja so schlimm, da nehm ich jetzt die andere Option und verhunger lieber, obdachlos sein ist ja auch nicht so schlimm?“
Ein solches Vorgehen ignoriert auch die Aussagen von TraumatherapeutInnen, dass Frauen in der Prostitution gar nicht anders können als sich einzureden, dass alles ok ist mit der Prostitution. Fast jede uns bekannte ehemalige Prostituierte hat genau diese Sachen in ihrer aktiven Zeit gesagt. Es handelt sich um einen bekannten Überlebensmechanismus.
Zweitens wurde Felicitas Schirow mehrfach vorgeworfen, an ihrer Situation selbst Schuld zu sein, da sie das Prostitutionsgesetz von 2002 so stark unterstützt und jahrelang Lobbyarbeit gemacht habe und als Betreiberin von der Prostitution anderer profitiert zu haben. Ja, das ist richtig, wie oben ausgeführt.
Aber in ihrem kurzen Text ging es eindeutig um die Probleme mit der Arge / dem Jobcenter, und die Regeln für diese Behörde hat sie nicht gemacht. Der unwürdige Umgang der Behörde mit ihren „KlientInnen“ ist nichts neues, wir haben alle schon von deren Schikanen gehört. Und für die ist Felicitas Schirow eben nicht verantwortlich.
Viele Aussteigerinnen berichten davon, dass sie durchs soziale Netz gefallen sind und deswegen die Prostitution aufgenommen haben. Sicherlich darf in der Gesamtbetrachtung nicht übersehen werden, dass Felicitas Schirow jahrelang Betreiberin war, aber im Moment ist sie eben einfach eine Ex-Prostituierte, die gerne etwas anderes täte, aber gezwungen ist, sich wieder zu prostituieren.
Stattdessen wird sie gefragt, ob sie mal an all die „Armuts- und Zwangsprostituierten“ gedacht habe, die sich täglich vergewaltigen lassen müssen, und das „nur, weil ein paar Frauen es als Beruf bezeichnen, dass sie ihren Körper für Sex anbieten“! Jetzt hat Felicitas Schirow in ihrer existenziellen Notlage erstens sicher anderes zu tun, als zuerst an andere zu denken. Und zweitens ist es wohl kaum die alleinige Schuld einiger „Sexarbeiterinnen“, dass es in Deutschland so viele Prostituierte gibt, die sich eigentlich nicht prostituieren wollen.
Anstatt ihr eine ordentliche ALG2-Beratung vorzuschlagen, gibt es hanebüchene Tipps wie die, erst mal eine Therapie zu machen. Wovon, wird nicht mitgeteilt. Dass Frau Schirow gar keine machen will, ist irrelevant. Wovon sie sich Essen kaufen soll, während sie Therapie macht, bleibt ebenso unklar. Und warum müssen Prostituierte eigentlich erst mal eine Therapie machen, bevor sie ernstgenommen werden?
Der Ton Prostituierten gegenüber kann wirklich als „übergriffig“ oder „anmaßend“ empfunden werden. Eine Prostituierte, die sich zu Wort meldete und meinte, sie habe den Beruf immer geliebt, aber jede solle ihn freiwillig machen, wurde belehrt: „Seine Körperöffnungen hinhalten… das nennen die ernsthaft einen Beruf…“
Außerdem stößt uns sauer auf, dass eine andere Prostituierte, die beschreibt, wie sie mit 60plus vom Jobcenter schikaniert wurde und auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr hatte, mit Kommentaren wie „Ich habe übrigens einen vernünftigen und normalen Beruf gelernt im Gegensatz zu einigen anderen“ abgewertet wurde oder auf die Frage, ob man selber Prostitutionserfahrungen habe, Sachen entgegnet wurden wie: „nee sorry, ich habe schon noch Selbstachtung und Respekt vor mir selbst und meinem Körper. So tief bin ich noch nicht gesunken, dass ich fremden Kerlen meine Körperöffnungen vermiete“.
Solche Kommentare werfen die Frage auf, mit welchen Motiven Prostitution bekämpft wird und offenbaren ein extrem bürgerliches Verständnis von Prostitution und gravierender Unkenntnis über das System der Prostitution und erfüllt darüber hinaus jedes Klischee der Sexwork-Lobby über Prostitutionsgegnerinnen.
Wir freuen uns sehr, dass die Stimmen gegen die Prostitution mehr werden. Wir empfehlen jedoch dringend allen Aktivistinnen, dass sie sich über die Konsequenzen eines solchen Vorgehens für die Bewegung bewusst sind und überlegen, was ihre Aussagen bei Betroffenen, egal auf welcher Seite der Prostitutionsdebatte, auslösen.
Als Abolitionistinnen und Radikalfeministinnen verachten wir prostituierte Frauen (oder andere Menschen) nicht, völlig unabhängig ob sie unsere politischen Positionen teilen oder nicht. Wir sind immer gegen das System der Prostitution, jedoch niemals gegen die Prostituierten!