Warum ich nicht verzeihe

    Manchmal, wenn ich über meine Geschichte spreche, über all die sexuelle Gewalt, die ich in meiner Kindheit und auch in der Prostitution erlebt habe, kommen Menschen auf mich zu und meinen, mir gute Ratschläge geben zu müssen. Aber Ratschläge sind manchmal auch Schläge. Vor allem, wenn der Ratschlag lautet: „Du musst den Tätern verzeihen, dann wird es Dir besser gehen.“

    Ich könnte kotzen, wenn ich das höre.

    Denn ich verzeihe nicht. Ich bin nicht Buddha. Man komme mir nicht mit solchem Unsinn. Ich hatte mal eine Psychologin, die war so dermaßen auf dem Esoteriktrip, dass sie mir sagte: „Eigentlich können Sie Ihrem Stiefvater und all ihren Freiern und Zuhältern dankbar sein, dass die Ihnen das angetan haben. Nur dadurch sind Sie der tolle Mensch geworden, der Sie jetzt sind.“

    Warum kann ich so einen Mist nicht mehr hören?

    Weil das die Aussagen einer Gesellschaft sind, die von Opfern nichts hören will. Von einer Gesellschaft, die nichts ändern will. Manchmal, wenn ich sage „Wie könnte ich verzeihen und Frieden haben, wenn es doch weiterhin in dieser Gesellschaft geschieht, dass Kinder missbraucht, Frauen vergewaltigt und gekauft werden?“ bekomme ich zu hören: „Ja, es geschieht noch, aber doch nicht DIR. Du kannst also beruhigt sein.“

    Wo soll man da anfangen? Das erste ist: dazu, dass jemand verzeiht, gehört, dass jemand um Verzeihung BITTET. Wenn wir sagen „ich entschuldige mich“, dann ist das eigentlich grammatisch nicht korrekt. Man kann sich nicht entschuldigen. Man kann nur um Ent-Schuld-igung bitten. Darum, dass der oder die Geschädigte die Schuld von einem nimmt. Ohne Ent-Schuld-igung gibt es auch kein Verzeihen. Mich hat aber weder mein gewalttätiger Stiefvater noch einer meiner Zuhälter noch einer der Freier, die mich gefickt haben, obwohl sie gesehen haben, dass ich nicht will, um Entschuldigung gebeten. Sie bereuen nicht. Sie bitten nicht um Entschuldigung. Sie ändern nicht ihr Verhalten. All das wäre aber nötig, um zu verzeihen.

    Das zweite ist, nein, ich bin ihnen nicht dankbar. Geht´s noch?! Ich bin nicht durch die Täter und ihre Vergewaltigungen so geworden, wie ich jetzt bin. Sondern ich bin, wie ich jetzt bin, weil ich mit dem Geschehen so umgegangen bin, wie ich es eben getan habe. Es ist nicht das Trauma, das mich zu dem Menschen macht, der sich heute aktiv für Frauen- und Mädchenrechte einsetzt, sondern es ist meine ART, mit dem Trauma umzugehen und es zu händeln, die mich ausmacht.

    Und drittens, wie könnte ich Frieden haben, wenn ich sehe, dass das, was mir geschehen ist, immer noch passiert? Es ist das eine, sich damit abzufinden, dass die Vergangenheit ist, wie sie ist, und dass man sie nicht ändern kann. Das muss man tun, weil man sonst depressiv wird. Aber das muss eben nicht bedeuten, dass man „mit dem Thema nichts mehr zu tun haben will“. Ich laufe täglich an riesigen Plakaten für Bordelle vorbei. Ich bekomme täglich Mails von Mädchen und Frauen, die verzweifelt sind und aus der Prostitution aussteigen wollen, es aber nicht können und sich weiter ficken lassen müssen, gegen ihren Willen. Was für ein Mensch wäre ich, und was hätte ich aus dem Geschehenen gelernt, wenn ich sagen würde: „Schlimm, aber geht mich nichts an, für mich ist es vorbei“?

    All diese drei Ausssagen („du musst verzeihen“, „sei dankbar für die Gewalt“ und „für dich ist das Thema doch abgeschlossen“) bekomme ich immer wieder zu hören.

    Es ist dies die typische Reaktion einer Gesellschaft, die Täter deckt. Indem sie Opfer statt Täter anspricht. Gesellschaften, die Täter decken, sagen nie zu Tätern: „DU! DEIN Verhalten ist das Problem! Änder das!“ Sondern sie gehen zu den Opfern und sagen: „Du musst damit abschließen, Du kannst nicht alles ändern, Dich geht es doch nichts mehr an, Du bist raus, und wenn Du verzeihst, dann wird es Dir besser gehen.“

    Und sie meinen damit: „Gib doch endlich Ruhe, wir wollen davon nichts hören.“

    Denn wenn sie davon hören wöllten, müssten sie begreifen, was alles schiefläuft.

    Müssten sie erkennen, dass man in einer Gesellschaft, in der so viel Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird, nicht leben kann.

    Müssten sie entschließen, dass man das ändern muss.

    Aber dazu braucht man Kraft und Mühe. Und es ist eben einfacher, Opfer zu silencen.

    Und Opfer für ihre Gefühle zu beschämen.

    „Du bist manchmal so wütend“, „Du bist immer so aggressiv, wenn es zu dem Thema kommt“.

    Ja, stimmt. Und ich finde, dass Wut und Schmerz eine außerordentlich gesunde Reaktion auf das sind, was wir in dieser Gesellschaft vorfinden: Dass jedes 4. Mädchen sexuell missbraucht wird. Dass jeden 2. bis 3. Tag eine Frau von ihrem Expartner erschlagen wird. Dass hier jeden Tag 1,2 Millionen Männer in die Puffs gehen und Frauen ficken, von denen sie wissen, dass sie überhaupt keinen Bock auf sie haben.

    Da soll man friedlich bleiben und ruhig und sanft und hinnehmend und verzeihend? Wie krank und gestört wäre das bitte?
    Als ich zum Opfer gemacht wurde, habe ich gelernt, was Ohnmacht ist.

    Ich konnte mich nicht wehren gegen die Typen, die mich angefasst haben, die auf mir drauflagen, die mich geschlagen, mir wehgetan haben.

    Aber jetzt kann ich es. Ich bin nicht mehr ohnmächtig. Ich bin empört ob dieser sich täglich für so viele Frauen und Mädchen wiederholenden Ungerechtigkeit!

    Wir haben alle die Wahl.

    Wollen wir Täter auf ihr Verhalten ansprechen oder Opfer?

    Wollen wir weiter hinnehmen, was geschieht und irgendwas von Verzeihen labern, während die Täter fröhlich weitermachen, oder wollen wir was ändern?

    Wollen wir Resignation oder Revolution?

    Opfer haben keine Wahl.

    Aber wir haben die Wahl.

    Die Wahl, auf welche Seite wir uns stellen.

    Ich für mich weiß genau, welche Seite das ist.