Die Anklagebank des Abstands

    Ganz oft, wenn ich über Prostitution spreche, schlägt mir ein ganz bestimmtes Phänomen entgegen, oder besser: ins Gesicht. Es sind: persönliche Fragen, die mich provozieren sollen. Fragen, die nicht dem Verständnis dienen, das wird am Unterton klar. Fragen, die keine Interessenfragen sind. Sondern Fragen, die mir Schuld zuweisen sollen.

    Sowas wie: Ja, aber warum bist du denn nicht einfach aus dem Bordell gegangen? Warum hast du denn bzgl. deiner Armut nicht einfach dies und das gegangen? Warum hast du nicht einfach die Polizei gerufen? Warum hast du nicht…? Es hätte doch Möglichkeiten gegeben?

    Welchem Zweck dienen diese Fragen? Zwei Dinge.

    1. Es soll bestätigt werden, es hätte Möglichkeiten gegeben, nicht in die Prostitution abzurutschen. Es muss unbedingt, unbedingt, unbedingt so sein, dass es Alternativen gegeben hätte. (Spoiler alert: nein, gab es für mich wirklich nicht)
    2. Es soll unbedingt meine Schuld sein. Meine Wahl, meine Entscheidung. Ich muss dumm sein, darf nicht klargekommen sein, muss mein Schicksal selbst gewählt haben.

    Warum ist das für Leute, die mich so behandeln, so wichtig, mich anzuklagen?

    Weil sie Angst haben. Sie haben die Hosen voll.

    Sie müssen den Gedanken auf Abstand halten, dass ihnen das auch geschehen könnte.

    Die Idee, es könnte jeder von uns geschehen, prostituiert zu werden, ist ihnen fürchterlich unangenehm. Sie macht ihnen Angst.

    Aber Fakt ist: Prostitution ist keine Charakterfrage. Kein Persönlichkeitsmerkmal. Sondern eine Frage von Umständen.

    Und ja: Auch Du bist nur eine unglückliche Kindheit, ein Abrutschen in Armut, eine Scheidung, eine nicht verarbeitete Vergewaltigung, einmal den falschen Mann treffen von der Prostitution entfernt. Es könnte Dich genauso treffen, wie es mich getroffen hat. Weil Du eine Frau bist.

    Da ist sie, die Wahrheit. Hässlich und brutal.

    Was würde geschehen, wenn Menschen, die mich so abwertend auf die Anklagebank setzen, sich reflektieren würden? Verstünden, dass sie nur selber Angst haben? Dass die Wahrheit einfach beängstigend ist? Ganz klar, das täte weh. Und dann müssten sie handeln.

    Das wollen sie nicht. Es ist zu anstrengend.

    Es ist bequemer, weiter Opfer der Prostitutionsindustrie auf die Anklagebank zu setzen und zu sagen: Es war deine FREIE WAHL. Und MIR könnte das ja nie passieren.

    Und doch, ganz tief drin, da wisst ihr es: doch, könnte es. Wird es vielleicht sogar mal. Wer weiß, was morgen ist. Und dann sitzt ihr auf der Anklagebank und hört euch dieselben Fragen an… Und dann?

    © Text: Huschke Mau

    © Foto: Sven Döring