Heute bin ich mal wieder ins kalte Wasser gesprungen.
Als ich aus der Prostitution ausgestiegen bin, war das schlimmste für mich, nicht darüber sprechen zu können, was ich dort erlebt habe.
Die Gesellschaft hat mir rückgemeldet, dass es an mir liegen muss, wenn ich psychische Verletzungen aus der “Sexarbeit” in mir trage. Schlug ich die Zeitung auf, sprangen mir Anzeigen für Prostitutionskontakte entgegen. Oder Artikel über das “spannende, tolle Rotlicht”. Ging ich aus der Tür, sah ich riesengrosse Plakate für die Bordelle unserer Stadt. Lief ich auf der Straße entlang, fuhren an mir Taxis mit Puffwerbung vorbei. Und sprach ich über meine Prostitution, wurde ich beschämt.
Als ich angefangen habe, als Aktivistin tätig zu werden und über meine Zeit in der Prostitution zu sprechen, war das ein Sprung ins kalte Wasser. Mein erster Text ging sofort viral und ich stand völlig unter Schock. Und seitdem habe ich Angst.
Ich habe Angst vor den Drohungen und Gewaltankündigungen und Vergewaltigungsdrohungen, die ich bekomme. Angst vor einem Outing. Angst vor dem Stigma. Spreche ich auf Konferenzen, habe ich die ganze Nacht danach schreckliche Panikattacken.
Aber.
Prostitution zu durchdenken, sie einer strukturellen Analyse zu unterziehen, ihre Existenz in eine feministische Theorie einzuordnen und vor allem, offen und ehrlich darüber zu sprechen, und zwar laut und sichtbar, hat mich handlungsfähig gemacht.
Zu sprechen bedeutet, angefeindet zu werden. Aber auch, zu handeln. Ich habe immer noch Angst. Viel Angst.
Aber über die Jahre habe ich immer weiter meine Komfortzone verlassen. Der erste Text von mir. Das erste Foto von mir in der Presse. Der erste Vortrag auf einer Konferenz. Der erste Buchbeitrag. Die erste Gründung Deutschlands einziger unabhängigen Interessenvertretung für Frauen aus der Prostitution, in der Betreiberinnen nicht genehmigt sind. Das erste Gespräch im Bundestag.
Mir wurde immer wieder gesagt, ich sei so mutig.
Das bin ich gar nicht, habe ich dann immer geantwortet, denn ich fürchte mich ganz unheimlich.
Heute weiss ich, Mut zu haben bedeutet nicht, furchtlos Dinge durchzuziehen, sondern Mut bedeutet, die Hosen voll zu haben und die eine Sache trotzdem zu tun.
Und einfach immer weiter über die eigenen Grenzen zu gehen. Immer wieder die Dinge einfach TROTZDEM zu tun. Denn nur darauf kommt es an: dass man das Richtige tut. Egal, ob man dabei zittert.
Mittlerweile ist es für mich eine Gewohnheit geworden, regelmäßig meine Grenzen zu erweitern und meine Komfortzone verlassen.
Wie heute an diesem eiskalten bayerischen Gebirgsbach. Es war Ehrensache, in das klirrend kalte Wasser zu springen, auch wenn ich dabei den ganzen Wald zusammengekreischt und die ein oder andere Eisscholle gesehen habe (okay, das letzte war bisschen übertrieben).
Was ich damit sagen will: ihr müsste euch nicht stark wie Heldinnen fühlen, um das zu tun, was getan werden muss. Fasst ein bisschen Mut und tut das Richtige einfach trotz der Angst. Es lohnt sich, und falls es euch tröstet: ich hab die Hosen auch oft voll.
Und nicht zuletzt: ich wäre heute nicht in diesen klirrend kalten Bach gesprungen, wenn nicht feministische Schwestern mit mir runtergezählt hätten und mit reingesprungen wären. Und ja, das ist durchaus symbolisch gemeint. Danke für alles! Sisterhood is powerful! ❤ Und zusammen werden wir diese Welt besser machen. Keine Gewalt gegen Frauen und Mädchen mehr, und kein bezahlter sexueller Missbrauch mehr.
Das ist unsere Vision.
Wir sind hier, um sie umzusetzen.
Und dafür werden wir wieder und wieder ins kalte Wasser springen!