Konditionierung und Prostitution

    „Wenn eine Prostituierte nicht 24/7 eine Waffe am Kopf hat, gehe ich davon aus, sie macht das Ganze freiwillig, da sie an ihrer Situation ja etwas ändern könnte.“ – Das ist nur einer von vielen schlimmen Kommentaren, die ich so erhalte. Deswegen möchte ich heute über Konditionierung und Prostitution sprechen.

    Frauen in der Prostitution sind Frauen, die auch schon vor dem Anschaffen Gewalt erlebt haben. Melissa Farley, eine us-amerikanische Psychologin, hat bei Befragungen unter anschaffenden Frauen herausgefunden, dass 49% der Prostituierten in ihrer Kindheit schwer geschlagen und 57% in der Kindheit sexuell missbraucht worden sind. Die Psychologin Sibylle Zumbeck nennt ähnliche Zahlen: 83% der Frauen in der Prostitution hätten ein Kindheitstrauma, sagt sie: 70% dadurch, Zeugin familiärer Gewalt geworden zu sein (z.B. wenn der Vater die Mutter prügelte), 65% dadurch, selber Opfer schwerer und schwerster Kindesmisshandlung geworden zu sein, und 48% dadurch, sexuellen Kindesmissbrauch erlebt zu haben.

    Was machen diese Kindheitstraumata mit einem?

    Schwere Gewalt erlebt zu haben – auch sexuelle Gewalt – kann einen Menschen darauf konditionieren, diese Gewalt (weiterhin) auszuhalten. Vor allem, wenn die Gewalthandlungen in der Kindheit stattgefunden haben, prägen sie einen Menschen zutiefst. Die Lehren, die missbrauchte und misshandelte Mädchen ziehen, sind:

    • „Irgendwie bin ich Schuld an dieser Gewalt“
    • „Ich bin wertlos“
    • „Meine Wahrnehmung stimmt nicht“

    Und vor allem:

    „Wenn ich Gewalt erlebe, hilft mir niemand. Ich muss da alleine durch.“

    Ich möchte das kurz an meinem Beispiel verdeutlichen.

    Auch ich habe schwere und schwerste Gewalt in der Kindheit erlebt. Ich habe gehört, wie mein Stiefvater meine Mutter vergewaltigt hat, ich habe gesehen, wie er meine Mutter und meine Geschwister fast totgeprügelt hat und wurde selber von ihm fast totgeprügelt, ich habe das erlebt, was man „Waterboarding“ und Folter nennt und es gab mehrmals Situationen, bei denen ich dachte, okay, das hier überlebst Du nicht, jetzt bringt er euch alle um.

    Diese Taten haben teilweise in der Öffentlichkeit stattgefunden. Es gab ZeugInnen. Eingegriffen hat aber niemand. Und auch nicht die Polizei geholt.

    Mein Stiefvater hat immer gesagt: „Ihr gehört mir, und wenn ich euch totprügeln will, dann tue ich das.“ Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass das möglich ist, denn es hat von Außen ja niemand etwas getan. Das ist eine tiefgreifende Erfahrung: zu lernen, dass ein Täter einen umbringen kann, wenn er will. Dass das möglich ist. Als reale Option.

    Auch bei sexueller Gewalt, vor allem, wenn es sich um sexuellen Kindesmissbrauch handelt, fühlen sich Opfer oft hilflos. Hilflosigkeit ist etwas, das Menschen sehr schwer aushalten können. Deswegen übernehmen sie manchmal das, was die Täter sagen: „Da bist du selber dran schuld!“ Denn selber dran schuld zu sein, bedeutet zwar, schlecht zu sein, aber immerhin Handlungsfreiheit gehabt zu haben – und das fühlt sich immer noch besser an als Ohnmacht und Entsetzen.

    Was manche sexuell missbrauchte Kinder ebenso lernen: wenn man sich wehrt, wird es nur noch schlimmer.

    Das war auch bei mir so.

    Habe ich mich gewehrt, dauerte die Prügelorgie länger und wurde durch den Zorn meines Stiefvaters lebensgefährlicher, wurde mein Kopf noch länger unter Wasser getaucht, wurden konkrete Vergewaltigungsdrohungen ausgesprochen, wurde ich bei Minusgraden im Nachthemd aus dem Haus geworfen, wurde der Griff um mich rum fester.

    Habe ich mich gewehrt, wurde alles schlimmer.

    Denn Sichwehren kann dazu führen, dass Täter sich provoziert fühlen. Dass ihre Rage sich steigert, dass ihre Wut wächst, dass sie noch aggressiver werden.

    Und das ist unter Umständen lebensgefährlich.

    Auch, selbst als Opfer konkret NachbarInnen anzusprechen, die Polizei zu rufen, kann dazu führen, dass die Strafe, die der Täter einem dafür entgegenschleudert, vielleicht eine ist, die man nicht überlebt.

    Deswegen lernen viele Opfer von Kindesmisshandlungen, Impulse, sich zu wehren, zu unterlassen und stillzuhalten. Und dabei aus sich herauszugehen, sich zu trennen vom Ich, wegzuträumen, abzuspalten, aus der Situation „rauszumachen“.

    Drei Dinge lernen also Mädchen, die in der Kindheit schwere Gewalt erleben:

    1. Andeutungen eines Menschen, Gewalt auszuüben, sind immer ernstzunehmen. Die Gewalt ist real. Sie kann und wird stattfinden.
    2. Es gibt keine Hilfe. Hilfe von Außen zu erbitten, ist sinnlos.
    3. Sich wehren bedeutet, die Situation vielleicht nicht zu überleben.

    Das sind zwei so tiefgreifende Erfahrungen, dass sie mit dem Ich verwoben sind wie ein Häkeldeckchen. Unauftrennbar, es handelt sich dabei um Lebenslektionen: etwas, das man vielleicht nicht mehr aus sich herauskriegt.

    Was bedeutet das konkret?

    Das bedeutet konkret:

    Dass mein Zuhälter mich nicht mehr prügeln muss, damit ich ihm gehorche. Es reicht, wenn er mir mitteilt, dass er Mädchen verschwinden lassen kann – ich kenne Gewalt und ich kennen Täter und ich weiß, das kann und wird stattfinden. Also füge ich mich.

    Dass der Freier, bei dem ich auf Hausbesuch bin, mich nicht mit körperlicher Gewalt zu Praktiken zwingen muss, die ich nicht möchte, weil ich weiß, was es bedeutet, wenn er uns einschließt und mir das Handy wegnimmt. Also füge ich mich.

    Usw.

    Denn ich habe ja gelernt:

    • Täter können und werden schwere Gewalt gegen mich ausüben und mich ggf. umbringen.
    • Es gibt keine Hilfe. Ich bin den Tätern ausgeliefert.
    • Wenn ich stillhalte und m ich füge, überlebe ich das Ganze vielleicht. Wenn ich mich wehre, kann es sein, dass ich umgebracht werde.

    Freier und Zuhälter profitieren davon, dass Frauen in der Prostitution oft schon als Kind sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Vor allem Freier müssen sich so nicht die Hände schmutzig machen, sie müssen keine schwere körperliche Gewalt anwenden, um mit der Frau etwas machen zu können, das sie wollen (und von dem sie wissen, dass die Frau es nicht will). Es reicht eine kleine Andeutung, dass „man auch anders kann“, und schon greift die Kindheitskonditionierung.

    Frauen in der Prostitution müssen nicht 24/7 eine Waffe am Kopf haben oder im Heizungskeller eingesperrt sein.

    Die Tatsache, dass es viele Täter gibt, die davonkommen in Deutschland, genügt. Als Opfer gesehen zu haben, dass niemand einem glaubt, weder Polizei noch Jugendamt noch die restliche Familie, und dass niemand einem hilft, genügt.

    Die Waffe und der Heizungskeller befinden sich im Kopf.

    Es ist die Gesellschaft, die kleine Mädchen allein lässt und die Frauen in der Prostitution allein lässt, die zum Gefängnis wird.

    Prostitution profitiert von geschlagenen, missbrauchten Kindern, Freier profitieren davon.

    Kindesmisshandlung und Kindesmisbrauch, das bereitet Mädchen direkt auf die Prostitution vor: stillzuhalten, wenn einem sexuelle Gewalt angetan wird. Es erspart vielen Zuhältern, ihre Frauen „einzureiten“. Sie sind es ja oft schon.