Warum Frauen aus der Prostitution ihre Zuhälter und Menschenhändler nicht anzeigen. Meine Geschichte

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Es ist kompliziert.

Bei mir und ich denke auch, bei vielen.

Bei mir war es so, dass ich angefangen habe mich zu prostituieren, weil ich von Zuhause weggelaufen war, denn ich habe die schwere Gewalt dort nicht mehr ertragen. Irgendwann meinte das Jugendamt dann, ich müsse aus der betreuten Mädchenwohngemeinschaft wieder ausziehen. Hilfe habe ich da nicht bekommen – dass eine überhaupt rein gar keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie hatte und absolut null Unterstützung, war für das Jugendamt total neu und unverständlich. Jedenfalls habe ich schon lange vor dem Auszug geahnt, dass ich mich auf keinen verlassen kann, und dass ich alleine dastehen werde. Und da kickte mein Überlebensinstinkt rein, und ich dachte: du willst nicht auf der Strasse landen. Du bekommst keine Hilfe. Du bist ganz auf dich allein gestellt. Was also tun?

Und da ich gelernt hatte, ich bin nur eine Frau, und Frauen sind nur für das eine gut, dachte ich mir: okay, dann probierst Du jetzt eben aus, ob Du es wenigstens schaffst, Dich im Notfall zu prostituieren. Nur als Test, aber dann hast Du die Gewissheit, dass Du es kannst und überleben wirst, irgendwie. Darauf, einen anderen Job zu suchen, bin ich nicht mal ansatzweise gekommen. Das war genauso absurd, wie bei Ämtern etwas zu beantragen, das mir eigentlich zugestanden hätte. Ich wusste, ich möchte studieren. Aber ich wusste auch: mit einem Vollzeitjob nebenbei schafft man das nicht. Und: ich hatte für keinen Job das nötige Selbstbewusstsein. Nicht mal für kellnern. Es war mir ganz einfach rausgeprügelt worden – oder besser, hatte sich nie entwickeln können. Ich wusste immer: dass es mich gibt, ist schlecht und ein Fehler. Und ich darf keine Ansprüche stellen. Und ich darf auch nicht einfach so dasein. Ich muss es kompensieren, dass es mich gibt – mit Leistung. Ich darf nur existieren, wenn ich dafür etwas tu. Um Hilfe zu bitten, habe ich nie gelernt. Dass ich auf irgendwas Anspruch hätte, erschien mir total absurd. Für mich war schon immer klar: mein Platz ist ganz unten.

Normale Jobs sind für normale Leute.

Aber halt nicht für Abschaum.

Jedenfalls probierte ich es aus, da muss ich so um die 18 rum gewesen sein. Mein erster Freier war ein Mann, der mir auf der Strasse hinterherpfiff. Ich drehte mich um, ging zu ihm zurück und sagte: „Bei mir kostet es was.“ Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls wusste ich da, ich kann es. Ich kann überleben, und wenn es mit Prostitution sein muss. Aber ich kriege es hin. Und das war, wie schräg es jetzt auch klingen mag, mein Rettungsanker.

Danach kam erstmal eine ganze Weile lang nichts.

Irgendwann hatte ich dann einen WG-Platz in einer anderen Stadt. Und einen Studienplatz. Aber ich war ohne Möbel (ich hatte nichts ausser einer Matratze), ohne Plan (ich komme aus einer prekarisierten Familie, in der niemand studiert hatte), immer noch schwer belastet durch die Gewalterlebnisse in meinem Elternhaus und ich konnte auch gleich die erste Miete nicht zahlen, da meine Eltern sich über ein dreiviertel Jahr weigerten, den Bafögantrag auszufüllen. Wofür wiederum das Amt kein Verständnis hatte: „Wenn Ihre Eltern keinen Kontakt mehr zu Ihnen haben, überlegen Sie sich doch mal, warum. Meist haben die Kinder dann was falsch gemacht. Gehen Sie mal in sich und denken Sie nach, und dann entschuldigen Sie sich. Dann füllen die den schon aus.“ Das hat mich tief getroffen. Und wofür hätte ich mich entschuldigen sollen? Dafür, dass ich jahrelang schwer verprügelt worden war? Dafür, dass mein Stiefvater mehrmals versucht hat, uns umzubringen? Dafür, dass ich jahrelang seine Vergewaltigungen an meiner Mutter mit anhören musste? Dafür, dass er ab der Pubertät abends so gerne „Gute Nacht“ sagen kam zu mir, sich auf mich legte, und ich erst nach Stunden wieder aus meinem Blackout erwachte und bis heute nicht genau weiss, was damals passiert ist?

Ämter jedenfalls: keine große Hilfe, das habe ich früh gelernt.

Es dauerte nur ein paar Wochen in der neuen Stadt, und ich brach zusammen und kam in die Psychiatrie. Ich war heillos überfordert. Wie studieren geht, wusste ich nicht, wie um Hilfe bitten geht, wusste ich nicht, Selbstbewusstsein hatte ich keines (ich traute mich nicht einmal in die Sprechstunden, um mir etwas erklären zu lassen), Kohle Fehlanzeige und keine Aussicht auf einen Job, den ich mir zugetraut hätte. Und jede Nacht die Albträume und die Depressionen. Die Selbstverletzungen immer wieder.

Auch in der Psychiatrie war man mit mir überfordert. Ich war lange da, bestimmt ein dreiviertel Jahr. Es ist eine andere Geschichte, jedenfalls half man mir nicht, das „Aussen“ hinzubekommen, und ich hatte fürchterliche Angst davor, entlassen zu werden und dann in eine WG zu kommen, die mich mit den mittlerweile aufgelaufenen Zimmermietschulden konfrontieren würde. Und nicht zu wissen, wie es mit dem Studium weitergehen kann und ob überhaupt.

Und da erinnerte ich mich dann eben an den Rettungsanker, den Notfallplan. Und als ich im Stadtmagazin bei den Kontaktanzeigen eine Annonce darüber las, dass ein Mann eine Frau suche, mit der er via Sex (gemeinsam!) Geld verdienen könne, antwortete ich.

Es stellte sich heraus, dass dieser Mann ein Polizist war. Er arbeitete beim Bundesgrenzschutz und hatte durch jahrelanges Freiertum einen enormen Schuldenberg aufgetürmt. Sein Plan war, diesen dadurch abzubauen, dass er in Pornos mitspielen bzw. diese produzieren würde, und genau dafür suchte er noch eine Partnerin. Nachdem wir uns das erste Mal getroffen hatten und er mich, ich nenne es mal, sexuell ausgetestet hatte, offenbarte ich ihm, dass ich keine Pornos drehen wollte. Schon bei dem Gedanken daran schämte ich mich in Grund und Boden, ich hatte einfach nicht genügend Selbstbewusstsein dafür, fühlt mich nicht attraktiv genug – und das war mein einziger Massstab damals: den Ansprüchen von anderen zu genügen. Die Frage, ob ich mir damit guttäte, stellte sich mir nicht, denn darauf zu achten, hatte ich nie gelernt. Dass Sex Schmerzen verursacht, war bei mir jahrelang so, ich hielt es für normal. Sex ist für Männer, sie haben einen Anspruch darauf, es gibt kein Recht, nein zu sagen, und als Frau hat man eh nichts davon, sollte allerdings vorspielen, man fände es geil, denn das streichelt das Männerego. Das war, was ich gelernt hatte. Ich bin nur für eines gut: zum ficken, und darin muss ich wenigstens gut sein, sonst verliere ich meine Existenzberechtigung.

Heute bin ich froh, dass ich mit ihm keine Pornos gedreht habe. Es existieren schon echt widerliche Nacktbilder von mir, auf denen mein Stiefvater mich als 8- oder 9-jährige in sexualisierten Posen abgelichtet hat. Bei dem Gedanken daran, dass er die immer noch hat und was er vielleicht damit tut oder dass er sie rumzeigt, wird mir heute noch übel. Es ist einfach eine unfassbare Demütigung, auch im Nachhinein. Ich kenne einige Aussteigerinnen, die auch Pornos gedreht haben, und sie alle bereuen es. Es fällt ihnen schwer, damit abzuschliessen, denn sie wissen: die existieren irgendwo, und vielleicht holt sich gerade jemand einen darauf runter. Es ist irgendwie nie vorbei.

Freiwillig habe ich nie Pornos gedreht, aber im zweiten Wohnungsbordell wurde – lange Zeit ohne mein Wissen und immer gegen meine Willen – durch eine verdeckte Kamera alles aufgenommen, was wir mit den Freiern auf dem Zimmer taten. Ob die Aufnahmen jetzt immer noch existieren, weiss ich nicht, aber dass der Betreiber damit nichts Gutes vorhatte, ist mir klar – es ist reines Erpressungsmaterial. Aber dazu später mehr.

Als ich dem Polizisten, er war damals Anfang 30, erläuterte, dass ich mich nicht filmen lassen wollte, schlug er vor, mir dabei zu helfen, Termine mit Freiern zu machen. Er würde dabei auch auf mich aufpassen, bekäme dann aber 50% ab.

Das schien mir, auch wenn das heute nicht mehr nachvollziehbar ist, fair, denn mir stand ja sowieso nichts zu, ich musste ja schon froh sein, dass der Mann mich – natürlich im Tausch dagegen, dass ich ihm andauernd sexuell zur Verfügung stand – bei sich aufnahm, als ich aus der Psychiatrie entlassen wurde – denn mein WG-Zimmer hatte ich natürlich mittlerweile verloren.

Er führte mich dann richtig in die Prostitution ein. Er zeigte mir, wie man Werbeanzeigen schrieb und wo man sie aufgab. Er fuhr mich oft zu den Terminen, manchmal wartete er auf mich. Hätte man mich damals gefragt, hätte ich gesagt, dass ich das alles freiwillig mache. Heute sehe ich es differenzierter: war das nicht das Ausnutzen einer Notlage, so wohnungslos und traumatisiert ich war? Auch das Strafrecht hat hiermit zu tun: wer Personen unter 21 Jahren in die Prostitution verschafft oder sie dazu anhält, diese weiter fortzuführen, der macht sich in Deutschland des Menschenhandels strafbar. Erst vor ein paar Jahren habe ich dies durch Zufall erfahren. Und auch da erst ist mir klargeworden, dass es Ausbeutung war. Für mich hat sich das damals nicht so angefühlt – wenn man keine Existenzberechtigung hat, dann sind leben dürfen, ein Dach über dem Kopf und 50 % echt viel. Und so geht es nicht nur mir. Frauen, die in der Prostitution sind, haben oft schon sexuelle Gewalt erlebt, sie kennen sie und wissen, wie man sie überlebt – indem man dissoziiert. Und sie sind oft in extrem patriarchalen Familiengefügen grossgeworden oder in einer Umgebung, in der Frauen nicht viel wert sind.

Als ich nach Jahren kapiert habe, dass es vielleicht doch nicht an meiner „Schlechtigkeit“ liegt, dass ich in der Prostitution war, und dass es vielleicht doch nicht so freiwillig war, sondern eine Verkettung von unterlassener Hilfeleistung durch die Gesellschaft (und zwar seit frühester Kindheit), Retraumatisierungskreisel, ökokonomischem Druck und vor allem eben auch Menschenhandel, da war es schon zu spät, das anzuzeigen – es war bereits verjährt.

Ich hätte es trotzdem nicht angezeigt. Erstens, weil ein Teil von mir immer noch nicht glaubt, dass jemand anders als ich selbst in meiner imaginierten und seit frühester Kindheit eingeprügelten Verkommenheit schuld daran sein könnte, dass ich mir mein Überlebendürfen erficken musste. Und zweitens, weil mein erster Zuhälter ausgerechnet ein Polizist war. Ich habe es nicht als Unrecht gesehen damals – ich wusste nicht, dass man das anzeigen kann.

Den Polizisten müsste ich ja ausserdem bei seinen Kollegen anzeigen, und bei der Polizei herrscht ein gewisser Corpsgeist. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Klar hat er mir damals zum Beispiel erzählt, dass er und seine Kollegen vom Bundesgrenzschutz, wenn ihnen langweilig ist, zum Beispiel an die Bahnhöfe fahren und dort betrunkene Obdachlose so lange provozieren, bis diese ausfällig werden und sie mitgenommen werden können. Ich fand dieses Bedürfnis, Leute zu quälen und Macht über sie auszuüben schon damals unfassbar. Gleichzeitig habe ich aber nie bemerkt, dass einer seiner Kollegen ihn deswegen irgendwo gemeldet hätte. Was ich gesehen habe, war: auch wenn ein Kollege etwas tut, das nicht korrekt ist, wir sagen nichts, wir melden nichts, wir halten trotzdem zusammen. Dass so ein Kollege eine Anzeige von mir aufnehmen würde, scheint mir bis heute kaum vorstellbar. Dass die dann auch noch bearbeitet, dass korrekt ermittelt würde – no way.

Ausserdem habe ich keine guten Erfahrungen damit gemacht, bei Übergriffen zur Polizei zu gehen. Als mir vor Jahren ein Exfreund beim Trennungsgespräch in der gemeinsamen Wohnung Gegenstände ins Gesicht warf, bekam ich von der Polizei zu hören, ich solle halt einfach bei einer Freundin schlafen, das sei ein normaler Beziehungsstreit, da könne man nichts machen. Als ich zur Polizei ging, weil eine Exaffäre nicht verstehen wollte, dass Schluss war, mir hunderte SMS am Tag schrieb, bis zu 50 Mal anrief und täglich bis zu 16 Stunden vor meiner Tür campierte, mir schliesslich die Wohnungstür eintrat, weil er der Meinung war, ich würde ihn ja auch lieben, es nur noch nicht wissen, sagte man mir auf dem Revier, ich solle den jungen Mann doch einfach in Ruhe lassen. (Ja. Ich. Man könnte glatt darüber lachen!) Als ich anzeigen wollte, dass mir auf der Strasse ein Mann unter den Rock gegriffen hatte, bekam ich zu hören, ich solle mich doch freuen, augenscheinlich hätte ich einen neuen Verehrer. Das alles hat sich so über die Jahre angesammelt, und ich verstehe jede, die sexuelle Übergriffe nicht anzeigt. Denn das alles ist nur die Prozedur bei der Polizei. Vor Gericht, wenn es überhaupt dorthin kommt, wird es dann nochmal ganz anders schauerlich.

Jedenfalls, so etwas anzuzeigen, und dann noch bei Kollegen vom Täter? Nie im Leben.

Viele, sehr viele meiner Freier waren Polizisten. Die Polizei ist immer noch ein Männerverein,  genauso wie die Bundeswehr, die Feuerwehr, oft genug auch die Politik. Dort herrschen genug missverstandener Kameradschaftsgeist und toxische Männlichkeitsbilder. Auch andere Aussteigerinnen beim Netzwerk Ella haben mir erzählt, dass Polizisten immer eine relativ große Freiergruppe bei ihnen bildeten. Ich hatte mal einen Freier, der ermittelte beruflich gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Als ich ihn fragte, wie er dies mit seinem Besuch bei mir als Prostituierter vereinbaren könnte, schaute er mir ins Gesicht und sagte: „Das ist etwas völlig anderes hier. Ich tue dir nicht weh. Du bist freiwillig hier.“ Und das war keine Frage – er hatte das einfach ohne Nachfragen festgelegt.

Zeigt man bei Männern, die von Prostitution profitieren, indem sie sich als Freier betätigen, Menschenhandel oder Zwangsprostitution an? Eher nicht. Wer sich in Freierforen umliest, der oder die bekommt schnell eine Ahnung davon, was für Freier Zwang bedeutet. Entweder sie wissen, dass die Frauen, zu denen sie gehen, unter Zwang stehen und finden das gut, weil solche Frauen zu kaum was nein sagen dürfen. Oder sie definieren so lange am Wort „Zwang“ herum, bis nichts mehr übrig bleibt. „Was ist schon Zwang, ich muss jeden Morgen aufstehen und frühstücken, das ist auch Zwang“, kann man da lesen. Oder „die war doch in ihrem Heimatland schon auf dem Kinderstrich, die wusste genau, wofür die herkommt, und da ist das kein Zwang“, oder  „das ist kein Zwang, wenn ihnen die Pässe abgenommen werden, sie können doch einfach zur Bordelltür rausgehen und zur Polizei“ – eben nicht. Denn bei der Polizei sitzen genug Freier, für die die Frauen selber schuld sind an dem, was ihnen passiert.

In Schweden ist das anders. Dadurch, dass das Nordische Modell dort schon seit 20 Jahren existiert, hat sich die gesellschaftliche Einstellung zu Prostitution und zu Freiern verändert. Freier sein ist dort nichts normales mehr. Es ist etwas, wofür man sich schämt, und, wenn man im Staatsdienst ist, unter Umständen auch den Job verliert. Polizisten, die dort Sex kaufen, werden vom Dienst suspendiert. Die Freierbestrafung wird generell nur von geschulten PolizistInnen durchgeführt – dass dort blöde Sprüche kommen, Opfer beschuldigt werden, vielleicht sogar ausgenutzt – das ist so sehr viel unwahrscheinlicher als hier.

Jedenfalls habe ich mich bald von ihm gelöst und bin in das erste Wohnungsbordell gegangen. Dort war eine Frau die Betreiberin.

Im zweiten Wohnungsbordell aber war der Betreiber Anfang 30, hatte allerdings bereits 10 Jahre Knast runtergerissen – und das nicht wegen Schwarzfahrens. Drogen, Waffen, räuberische Erpressung, Sexualdelikte, schwere Körperverletzung – und jemand, der sich nur zu gern mit bekannten sogenannten Gangsterrappern zeigte. In diesem Bordell anzuschaffen, war kein Spass. Dass ich da wieder rausgekommen bin, war Zufall: er hatte mich gefragt, wie ich heisse, und ich sagte: „Charlotte“ (einer meiner Arbeitsnamen). Und als er fragte, „ok, und unter welchem Namen möchtest Du arbeiten?“, schaltete ich schnell, nutzte die Gelegenheit und nannte einfach einen anderen Namen („Svenja“), denn mir kam das alles merkwürdig vor, und ich dachte, sicher sei sicher.

Mich hat er nie angefasst, und das war auch nicht nötig. Was er meinen Kolleginnen angetan hat, war eindrücklich genug. Er musste nichts mehr sagen oder an mich adressieren, ich wusste, wo mein Platz ist. Er hat meine Kollegin vergewaltigt, er hat Frauen, die in seinen Bordellen waren und die er missbrauchte, Gegenstände ins Gesicht geworfen und sie verdroschen, wenn sie schwanger von ihm wurden, einige wurden von ihm tättowiert und damit als sein Eigentum gekennzeichnet. Immer wieder hat er uns auch klargemacht, dass er uns jederzeit verschwinden lassen könne. Dass es richtig war, ihm nicht meinen richtigen Namen zu sagen und auch meine Adresse vor ihm zu verbergen (damals ging das noch, weil es das Prostituiertenschutzgesetz noch nicht gab, und er uns folglich nicht anmelden musste), wurde mir klar, als eine Kollegin aussteigen wollte, deren Eltern dann eben überraschenden Besuch von sehr aggressiven, gewaltbereiten Muskelprotzen in Ledermänteln bekamen. Eine andere Kollegin hatte, als sie das Bordell verliess, mit zerstochenen Autoreifen zu kämpfen, damit, dass er plötzlich in ihrer Wohnung stand und ihr drohte, und vor allem mit einem sehr schmerzlichen Outing bei ihrem Freund und ihrer Familie. Der Terror hörte erst auf, als ihre Eltern ihm mehrere tausend Euro Ablöse zahlten.

Mir ist das nicht passiert. Ich bin, als ich nicht mehr konnte, einfach weg und habe das Telefon ausgeschaltet, bis er aufhörte, mir per SMS und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zu drohen. Ich weiss aber, dass er mich noch sehr lange gesucht hat – und ich möchte ihm bis heute weder im Hellen noch im Dunklen begegnen.

Klar hätte ich seine Versuche, mich zurückzupressen, von mir Ablöse zu wollen, mir zu drohen, oder auch alles, was ich gesehen hatte, anzeigen können. Aber.

Bei uns war im Bordell mal die Polizei. Und diese Situation war so schräg, dass sie mich nur darin bestärkte, mich niemals an sie zu wenden, egal, wie brenzlig die Situation würde.

Sie standen in der Küche des Wohnungsbordells und sie wollten unsere Ausweise sehen. Der Wirtschafter (fast jedes Bordell hat einen Wirtschafter, das ist meist ein Mann, der fast immer da ist, und der dafür sorgt dass alles läuft, der die Frauen kontrolliert, die Abrechnungen checkt, neue Zewarollen holt…) stand direkt neben dem Typen von der Polizei, der meinen Ausweis in der Hand hatte, und ich musste ihn erst darauf aufmerksam machen, dass er doch bitte meine Papiere mal so halten solle, dass der Wirtschafter es nicht mitbekomme. Da war einfach null Sensibilisierung für unseren Schutz. Ich kam mir vor, als müsste ich ihnen erstmal erklären, was hier vonstatten geht. Was ich natürlich nicht getan habe, denn ihr einziges Interesse war, uns darüber zu belehren, dass wir auf das hier Steuern zahlen müssen. Das war ihnen ganz wichtig. Dass sie auf meinen Ausweis gesehen haben mussten, dass ich unter 21 war, und vielleicht mal hätte gefragt werden sollte, ob ich freiwillig hier bin– geschenkt. Und was hätte diese Frage auch gebracht, ich hätte ja so oder so nie die Wahrheit gesagt, während der Wirtschafter – die rechte Hand des Betreibers – mit im Raum steht.

Dass sie uns damals nicht einzeln befragt haben, ob alles okay ist, obwohl sie wussten, dass der Betreiber ein Mitglied der Organisierten Kriminalität war, kam mir merkwürdig vor. Ich fühlte mich irgendwie im Stich gelassen und ausgeliefert. Und auch ein bisschen wie Dreck, bei dem es egal war, ob er unter die Räder gerät oder nicht.

Jahre später stand dann bei mir das Landeskriminalamt vor der Tür. Es lief – wie eigentlich permanent – wieder eine Ermittlung gegen ihn, und man hatte wohl in irgendeiner Akte gesehen, dass ich damals in seinem Bordell angetroffen worden war. Und wieder wurde ich nicht gefragt, ob er auch mir etwas getan hatte, oder ob es etwas gäbe, das sie wissen sollten. Daran, wie es mir dort ergangen war (und ob vielleicht auch an mir Straftaten begangen worden waren), hatten die beiden überhaupt kein Interesse. Im Gegenteil hatte ich das Gefühl, dass sie mich benutzen wollten dazu, ihn endlich in den Knast zu bringen. Und dass sie dafür bereit waren, mich komplett unter den Bus zu werfen. So sollte ich eine Aussage machen darüber, was im Bordell so vorgefallen war. Erst auf meine Nachfrage hin, wurde mir offenbart: ja, mein Name und meine Adresse stünden dann in der Akte und die würde natürlich vom Anwalt des Betreibers eingesehen werden können. Man hätte mir das einfach verschwiegen und ich hätte dann schön damit dagesessen, der Polizei damit geholfen zu haben, ihn vor Gericht zu bringen, während er dadurch meinen Namen und meine Adresse erfährt, wie praktisch. Ich kam mir vor wie das Allerletzte. Auf die Idee, dass ich irgendwie Schutz bräuchte, ist dort niemand gekommen, nicht einmal, als ich davon berichtete, wie es meinen Kolleginnen gegangen war, die das Bordell hatten verlassen wollen. Mich zu schützen war von vornherein nicht vorgesehen, mit Opferschutz war da nix.

Warum eigentlich nicht? Weil ich für die ja nur eine Nutte war? Kollateralschaden bei der Ermittlung wegen Drogenhandels im großen Stil, bei den „richtig krassen Sachen“ – so bisschen junge Frauen ausbeuten, das war ja nix?

Ich sprach mit der Polizei, allerdings legte ich Wert darauf, dass nichts davon zu den Akten käme. Damit konnte natürlich auch nichts vor Gericht verwendet werden (mein Leben war mir in diesem Moment aber wichtiger) – aber zu den großen Sachen konnte ich eh nichts sagen, und das bisschen Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsprostitution, Nötigung usw. würde ja eh nicht verfolgt werden. Wie die Polizei auf Betroffene zugeht, ist absolut entscheidend – uninformiert und ohne Verständnis für die Situation konnten sie alles nur kaputtmachen. Das alles hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir, mehr noch aber die Sache mit den Kameras. Meine Kollegin und ich hatten mal einen Freier gehabt, der mit uns auf dem Zimmer eine Line Koks ziehen wollte. Wir hatten ihm angetrunken gesagt, dass das nicht ginge, weil auf den Zimmern Kameras seien – was auch so war. Das schrieb er leider in ein Freierforum, wo das LKA es las. Das LKA fragte mich auch danach, allerdings nur, ob mit dem Videomaterial Freier erpresst worden seien.  Das war ihre größte Sorge – es war so absurd, weil die überhaupt nicht daran interessiert waren, was mit uns war, allein dem Wohl der Freier galt ihre Sorge. Dabei musste doch für jeden und jede, der oder die sich im Milieu auskennt, klar sein, dass kein Bordell so blöd sein wird, Freier zu erpressen – das macht sofort die Runde, und dann ist der Puff zu. Lange geht sowas nicht gut. Nein, die Kameras waren da, um uns zu kontrollieren – wie lange war der Gast auf Zimmer, stimmte das mit der Abrechnung überein, und wie viele Gäste hatten wir überhaupt gehabt? Und natürlich ergab das alles feinstes Erpressungsmaterial für Frauen, die aussteigen wollten.

Ich war einfach nur Verfügungsmasse und Material, den in den Knast zu bringen – aber wegen anderer Sachen. Begriffe wie Vergewaltigung, körperliche Gewalt oder Zwangsprostitution sind da nie gefallen, das war denen völlig egal.

Das alles ist schon weit über 10 Jahre her, es gibt also Hoffnung, dass sich ein kleines bisschen was geändert hat – aber wenn ich mir die Erzählungen meiner Kolleginnen und Exkolleginnen anhöre, glaube ich das nicht. Geschult war da jedenfalls keiner bei der Polizei. In Deutschland bekommt man ja auch ständig ein falsches Bild von Zwangsprostitution via Medien präsentiert: wer nicht mit der Pistole in das Bordell hineingezwungen wird, wer nicht mit der Kette am Fuss im Heizungskeller sitzt, der macht es freiwillig. Dazu kam: mein erster Zuhälter, der Polizist, hat mich nie geschlagen – er hat mich vergewaltigt, ja (etwas, was ich damals normal fand), aber nie geschlagen. Wie zeigt man so einen Zwang an? Wie sensibilisiert sind da Polizei und Justiz, wo doch in Deutschland keine objektiven Kriterien dafür existieren, was „Zwang“ ist, wenn es um Zwangsprostitution geht? Und wo jedes Opfer individuell beweisen muss, dass es gezwungen worden ist, und wo es ohne die Aussage der Geschädigten gar kein verfahren gibt? In Schweden ist das anders. Dort ist die Aussage des Opfers nicht nötig, damit es zu einer Anklage kommt – und dort existieren Kriterien dafür, was Menschenhandel ist und Zwang. Das ist vor allem für Mädchen und Frauen, die geschädigt wurden, eine große Entlastung.

Ich hatte einfach das Gefühl, ich sei selbst schuld daran gewesen. Auf Umstände, die meinen Gang in die Prostitution begünstigt haben, auf andere Personen, die profitiert haben, mir den Weg zu ebnen und dann von meinem Verdienst lebten, habe ich überhaupt nicht geachtet. Ich war schuld. Denn ich wollte überleben. Etwas, das mir eigentlich nicht zustand. Dachte ich.

Die Mehrzahl der Aussteigerinnen, die ich kenne, weit über 90 %, hat nicht angezeigt. Die Frauen, von denen ich weiss, dass sie angezeigt haben, kann ich an einer Hand abzählen. Oft war ihnen gar nicht klar, dass das, was ihnen passiert, ein Straftatbestand ist – das wird ihnen oft auch nicht rückgemeldet. Neulich hatte ich ein Gespräch mit einer Frau, die jetzt beim Netzwerk Ella ist, und die berichtete mir, dass es für sie unfassbar skurril gewesen war, denn sie war in einem Bordell gewesen, dem die Polizei sehr oft Besuch abstattete – und in diesem Bordell war auch eine Rumänin, von der sie sagte, dass sie aussah wie 12 oder 13. Dieses Mädchen hatte aber einen Ausweis, auf dem stand, dass sie 18 sei. Die Polizei hat das kontrolliert und den Ausweis einfach zurückgegeben – ohne zu kontrollieren, ob der vielleicht nicht echt ist, und vor allem, ohne dass Mädchen mal beiseite zu nehmen und sie zu befragen. (Vielleicht sogar in einer Atmosphäre, die ihr das Gefühl gibt, etwas sagen zu können und geschützt zu werden?) Vor allem berichten mir viele Frauen davon, dass sie oft Polizisten als Freier hatten, und es ist klar, dass man dann nicht anzeigt. Die Gesellschaft verlangt schon von uns, dass wir uns rechtfertigen, wenn wir sagen, dass es nicht freiwillig war, dass wir nicht einfach faule Schlampen sind, die für die Geld aus Spass die Beine breit machen, „das Hobby zum Beruf gemacht“ und „leicht verdientes Geld“ – wie dann erst, wenn man auf dem Revier einem Polizisten gegenübersitzt, der selber Freier ist, und der ein Eigeninteresse daran hat, dem Sexkauf weiter ohne schlechtes Gewissen nachgehen zu können?

Wichtig wäre auch, den Frauen transparent zu machen, was im Prozess überhaupt passieren wird, damit wir wissen, was auf uns zukommt. Es ist ja auch bei Vergewaltigungen so, dass es oft gar nicht zum Prozess kommt oder dass der Täter aus Mangel an Beweisen wieder freigesprochen wird, und dass die Opfer die Prozess als Retraumatisierung erleben. Auch über Schutzmassnahmen müsste gesprochen werden. Stattdessen erleben Frauen aus der Prostitution allzu oft eine abwiegelnde Haltung: „ach, der wird dir schon nichts tun, ist doch schon so lange her, du bist ja nicht die Einzige, die aussagt“. Vor allem Frauen, die aus dem südöstlichen Europa kommen, sagen kaum aus. Das Dunkelfeld bezüglich Zwangsprostitution und Menschenhandel ist hier enorm. Wie sollen sie auch aussagen, wenn die Täter aus dem selben Dorf kommen wie sie, wenn sie dort ihre Familie kennen und allzu oft auch bedrohen? Die ganze Last der Verurteilung liegt auf den betroffenen Frauen, und das erschwert die Anzeigebereitschaft extrem.

Es gibt auch kaum positive Vorbilder. Die Frauen, die, wie ich, nicht angezeigt haben, tun das auch deswegen nicht, weil sie sich nicht vorstellen können, dass es überhaupt zu einer Verurteilung kommt. Man hört kaum etwas davon, die Zahl der Prozesse, die „glatt laufen“, ist, im Vergleich zu den Verurteilungen, extrem gering. Man nimmt als Zeugin extrem viele Risiken und Belastungen auf sich, eventuell auch den Nachteil der Lebensgefahr, für gefühlt nichts – die Strafen sind oft zu gering.

All das – das Sexkaufverbot endlich einführen, PolizistInnen schulen, objektive Kriterien dafür einführen, was als Menschenhandel und Zwangsprostitution zu gelten hat, betroffene Frauen und Mädchen zu schützen – davor, in diese Situation zu geraten aber auch davor, während und nach dem Prozess lebensgefährlichen Risiken ausgesetzt zu werden – all das erfordert zunächst einmal, dass wir als Gesellschaft hinschauen, was hier passiert: das jedes Jahr so unfassbar viele Frauen in Deutschland in die Prostitution verbracht werden oder sich nicht anders zu helfen wissen, als in sie einzusteigen. Oft stammen sie aus Ländern, die als Armenhäuser Europas gelten. Oder von hier, aber aus mehr als prekären Hintergründen, in denen  die Gesellschaft sie nicht allzu oft schon als Kind im Stich gelassen hat. Es erfordert, dass wir uns fragen, ob unser Bild von Prostitution als „sexueller Dienstleistung“ wirklich stimmt, und ob es nicht doch eher sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen ist. Und ob es überhaupt noch zeitgemäß ist, prekarisierte und auch rassistisch diskriminierte Frauen in Deutschland in die Prostitution verschaffen zu lassen, damit sie unseren deutschen Männern hier die Schwänze lutschen – Neokolonialismus pur. Und dann würden wir vielleicht erkennen, dass die Existenz von Prostitution Anzeichen und auch Ursache davon ist, dass Frauen hierzulande noch immer nicht gleichgestellt sind, und dass ausserdem noch lange nicht genug getan wird gegen sexuelle Gewalt hierzulande.

Aber sich einzureden, dass es sich hierbei um sexuelle Dienstleistungen handelt, während gleichzeitig wir Prostituierten noch immer unter dem Stigma leiden (denn in einer legalisierten Prostitutionsgesetzgebung wird nur das Stigma der Freier eliminiert, die sich für nichts mehr schämen müssen, während wir hingegen nicht einmal mehr davon sprechen dürfen, dass es sexuelle Ausbeutung ist, was hier passiert), ist viel leichter – und wohl auch effizienter. Über 12 Milliarden Euro Umsatz macht das Rotlichtgewerbe in Deutschland pro Jahr. Wieviele Steuergelder da wohl für den deutschen Staat drin sind?

Schweden hat es geschafft und das Nordische Modell eingeführt. Es funktioniert dort seit 20 Jahren, dass Freier bestraft werden und es damit immer weniger von ihnen gibt, dass Frauen in der Prostitution Ausstiegshilfen bekommen und dass allgemeiner Konsens ist: Prostitution ist Gewalt gegen Frauen.

Schaffen wir das auch – und vor allem, wann? Es ist schon lange Zeit dafür.

Huschke Mau