Was ist das Nordische Modell?

    Das Nordische Modell ist ein Maßnahmenpaket, und es besteht aus 5 Punkten:

    1. Der Anerkennung der Tatsache, dass Prostitution sexuelle Gewalt gegen Frauen ist und Gleichstellung verhindert.

    2. Der völligen Entkriminalisierung der prostituierten Frau.

    3. Ausstiegshilfen.

    4. Der Einführung der Freierbestrafung.

    5. Aufklärung über Prostitution, z.T. auch schon in der Schule.

    Das Nordische Modell wurde nach jahrzehntelanger Forschung und Rücksprache mit Betroffenen 1999 zuerst in Schweden implementiert. (Und mittlerweile auch in Norwegen, Island, Frankreich, Irland, Kanada und Israel.) Freiertum wird als Suchtkrankheit behandelt, auch für Freier gibt es Beratungsstellen.

    In Kanada werden z.B. Freier gezwungen, an einem Sensibilisierungskurs teilzunehmen, in welchem sie konfrontiert werden mit den Konsequenzen, die ihre Handlungen haben. Die Freier müssen diese Kurse bezahlen – der Erlös geht an Hilfestellen für prostituierte Frauen. Kommen die Freier dem Zahlungsbescheid nicht nach, wird ihr Auto beschlagnahmt. Durch die normative Wirkung des Gesetzes ist es zudem in Schweden zu einer Einstellungsänderung gekommen – war vor der Einführung des Gesetzes noch die Mehrheit der Gesellschaft, vor allem die Männer, gegen ein Sexkaufverbot, sind jetzt 70% der Gesamtbevölkerung dafür. Die Anzahl der Freier nahm im Zeitraum von 1996 bis 2006 um je 0,5%-Punkte im Jahr ab und lag im Jahr 2006 noch bei 8% der männlichen Bevölkerung. Dies sind Zahlen von denen wir in Deutschland nur träumen können: je nach Statistik geht jeder fünfte bis zehnte Mann regelmäßig ins Bordell. Wenn es über das Nordische Modell gelänge, diese Zahlen zu minimieren, wäre das also schon ein Fortschritt – was KritikerInnen des Nordischen Modells, die immer wieder betonen, es gäbe ja Prostitution auch in Schweden immer noch, nämlich gerne vergessen: ja, es gibt sie noch, aber eben quantitativ weniger. Prostitution ist nicht einfach „da“, sie findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern wieviel es von ihr gibt und wie sie sich gestaltet, kann durchaus beeinflusst werden.

    Dadurch, dass die Kunden fürchten, wegen Sexkaufs angezeigt zu werden, bleiben sie eher weg und es findet, wenn doch ein Sexkauf stattfindet, eine deutliche Machtverschiebung statt: Wo jetzt in der Legalisierung eine gebuchte Stunde durchaus mal zu einem durch die prostituierte Frau nicht anzeigbaren Hatefuck werden kann, sind Freier im Nordischen Modell eher bemüht, keine weiteren Grenzverletzungen zu begehen, denn allein, dass sie eine Frau angesprochen und ihr Geld für Sex geboten haben, ist bereits strafbar. Dass, wie von GegnerInnen des Nordischen Modells behauptet, Gewalt gegen Prostituierte zugenommen hätte, haben die Evaluationen des Gesetzes aus Norwegen und Schweden nicht bestätigt. Das Nordische Modell schützt also nicht nur Frauen davor, in die Prostitution zu geraten, es schützt auch die Frauen, die in der Prostitution sind.

    Durch die verminderte Nachfrage ist es unlukrativ geworden, eine Frau nach z.B. Schweden zu handeln und sie dort zur Prostitution zu zwingen. Die Formel lautet: weniger Nachfrage, weniger Angebot, und damit automatisch weniger Menschenhandel und Zwangsprostitution. Es gibt nur zwei Wege, Zwangsprostitution und Menschenhandel zu verhindern, dies ist eben zum einen das Nordische Modell mit seiner Nachfrageminimierung und zum anderen, wie in Deutschland, ein legalisierter Markt, der durch permanente Razzien kontrolliert werden muss, wenn auch völlig unzureichend. Wir vom Netzwerk Ella haben uns bereits gegen diese Razzien ausgesprochen, weil sie unter der deutschen Gesetzgebung nur Ausdruck der Doppelmoral eines Staates sind, der einerseits durch seine Prostitutionspolitik dafür sorgt, dass Frauen nach Deutschland gehandelt und hier sexuelle ausgebeutet werden und sich andererseits dann durch diese vereinzelten Razzien zum Retter zwangsprostituierter Frauen stilisiert. Es ist auch nicht einzusehen, warum prostituierte Frauen mit der Polizei zu tun haben sollten, während die Hintermänner regelmäßig um Verurteilungen herumkommen. Hinzu kommt, dass in Deutschland eben auch Polizisten ungestraft Freier sein dürfen und dann auch sind. Es lässt sich ganz einfach ausrechnen, mit welchem Frauenbild solche Männer die „befreiten“ Frauen konfrontieren. Kann man solch einer Polizei vertrauen? Eher nicht, im Gegenteil öffnet es Tür und Tor für Erpressungs- und Missbrauchssituationen. In Schweden hingegen ist es keine Privatsache, ob jemand zu Prostituierten geht. Menschen, die z.B. im öffentlichen Dienst arbeiten, können, wie bei der Polizei, vom Dienst suspendiert oder gefeuert werden, wenn sie sich als Freier hervortun.

    Das Nordische Modell hat auch bei der Polizei, nicht zuletzt durch den Kontakt mit prostituierten Frauen und dem Austausch mit SozialarbeiterInnen, zu einem Einstellungswechsel geführt. Prostituierte werden nicht mehr als kriminell oder verdorben, sondern als in einer Notlage feststeckend wahrgenommen. Das ist definitiv begrüßenswert und schafft mehr Vertrauen. Die Prostitution Units, die den Sexkauf ahnden, sind geschulte PolizistInnen. Gibt es keine Hinweise auf Straftaten (Zuhälterei usw.), wird nur noch eine Sozialarbeiterin hinzugezogen, deren Hilfe die prostituierte Frau natürlich auch verweigern kann.

    Anders als im deutschen Modell hängt es auch nicht vom Opfer ab, ob eine Anzeige wegen Zuhälterei und Menschenhandel ergeht oder nicht. Während in Deutschland jedes Opfer einzeln anzeigen, die Zwangslage beweisen und aussagen muss (was die betroffene Frau in eine schwere Gefahrenlage versetzen kann), gelten in Schweden objektive Kriterien dafür, was Zwang, Menschenhandel und Zuhälterei ist. Für letzteres reicht es z.B. aus, Geld von der betroffenen Frau genommen zu haben.

    Entgegen der oft vorgebrachten Kritik, Prostitution wandere in den Untergrund, wenn man ein Sexkaufverbot erließe, ist Prostitution für alle, die sie angeht immer noch leicht auffindbar. Das liegt daran, dass Prostitution nicht in dunklen Ecken stattfinden kann, sondern sichtbar sein muss, damit Prostituierte und Freier sie finden – und wenn Freier das herausfinden können, können PolizistInnen und SozialarbeiterInnen das auch. Der Untergrund, der so gern auf Schweden projiziert wird, findet im Gegenteil hier in Deutschland statt: obwohl Prostitution legal ist, gibt es dennoch den Tatbestand der verbotenen Prostitution, wie z.B. im Sperrbezirk, für den die prostituierte Frau bestraft werden kann. Zugleich findet der Missbrauch vor aller Augen statt, denn in jeder größeren Stadt sind mittlerweile Megabordelle zu finden.

    Nicht zuletzt: seit der Einführung des Nordischen Modells in Schweden hat es, statt wie in Deutschland über 80, nur einen einzigen Mord an einer prostituierten Frau gegeben (und der wurde nicht ausgeführt von einem Freier, sondern von ihrem Exfreund).

    Das Nordische Modell ist auch das, was wir vom Netzwerk Ella fordern, denn es geht gegen Prostitution, aber nicht gegen Prostituierte vor. Es beschämt nicht die einzelne Prostituierte, sondern kritisiert, in welchen Strukturen sich Dinge abspielen und verändert diese, statt jede einzelne Frau für die Existenz der Prostitution verantwortlich zu machen, nur weil diese unter bestimmten Umstände zu dieser vielleicht ja gesagt hat. Frauen dafür verantwortlich zu machen, in welchen Strukturen sie sich bewegen / bewegen müssen, ist nicht feministisch, das gilt bei Abtreibung ebenso wie bei partnerschaftlicher Gewalt, sexueller Belästigung usw. – man würde ja auch nicht an den Frauen rumregulieren, die von ihren Ehemänner geschlagen werden, sondern an den Ehemännern. Wichtig ist, dass das Nordische Modell komplett umgesetzt wird, jeder der 5 Punkte muss fest installiert und gesichert sein, auch finanziell – eine reine Verkürzung auf die Freierbestrafung funktioniert nicht! Ohne Ausstiegshilfen oder die Entkriminalisierung prostituierter Frauen geht es nicht. Für viele Frauen ist Prostitution die letzte Option, und es darf nicht darum gehen, ihnen diese wegzunehmen, sondern, weitere hinzuzufügen. Wir vom Netzwerk Ella fordern auch Gefängnisstrafen statt der bisher im Nordischen Modell implementierten Bußgelder. Zwar steht jeder prostituierten Frau in Schweden bis dato frei, zu der ordnungspolitischen Bußgeldmaßnahme, die der Freier erhält, auch eine Anzeige wegen Vergewaltigung zu stellen, aber wir finden, dies sollte automatisch geschehen. Wenn die wirtschaftliche Notlage einer Frau auszunutzen, um sexuelle Handlungen an ihr zu vollziehen, eine Gewalttat ist, darf dies nicht mit einem Bußgeld erledigt sein!

    Wir wenden uns außerdem gegen jede Regulierung, die prostituierte Frauen betrifft, weil diese Regelungen es uns Frauen noch schwerer machen, auszusteigen. Mit Haftstrafen und Bußgeldschulden steigt es sich nicht mehr so leicht aus!

    Immer wieder: gegen Prostitution sein kann jedeR, aus den unterschiedlichsten Gründen, aber wir sind Abolitionistinnen, und das bedeutet: gegen Prostitution, aber für Prostituierte zu sein. Und das bedeutet eben auch: nicht zu spalten in „die arme unschuldige Zwangsprostituierte“ und „die freiwillige deutsche studierende Prostituierte“. Auch letztere haben ihre Gründe für das, was sie tun, und sie schulden uns keine Erklärung für ihr Verhalten. Und nein, auch sie sind nicht schuld daran, dass es Prostitution gibt – Prostitution gibt es, weil es Freier gibt. Ohne Nachfrage kein Markt! Es geht darum, solidarisch zu sein mit Prostituierten, auch wenn uns ihre Meinung, wie oft bei sog. Sexworkerinnenverbänden, nicht passt, denn die Strukturen betreffen auch sie, und diese sollten wir kritisieren, nicht die Frauen, die in ihnen handeln, und hier gehören Argumente her, auf Sachebene, keine persönlichen Beschuldigungen.

    Feminismus bedeutet, Frauen zu befreien und nicht, ihre Ausbeutung bestehen zu lassen und lediglich ein bisschen erträglicher zu machen. Prostitution ist nicht deswegen verkehrt, weil es in ihr Menschenhandel und Zwangsprostitution gibt, sondern weil sie Gewalt an sich ist. Das Nordische Modell ist das einzige gesetzgeberische System, das Prostitution als Gewalt erkennt, als sexistische, rassistische und klassistische Gewalt gegen Frauen, und das konsequent danach handelt. Es kann nicht nur um den Ausstieg einzelner Frauen aus der Prostitution gehen, wenn wegen der hohen Nachfrage doch sogleich eine neue nachrückt, sondern es geht um den Ausstieg der Gesellschaft aus der Prostitution.

    Es geht um die gesellschaftliche Entscheidung: ist Prostitution sexuelle Gewalt oder nicht?

    Und wenn sie das ist, müssen wir die Konsequenzen ziehen, denn eine Gesellschaft, die Prostitution akzeptiert, ist eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen akzeptiert.

    © Huschke Mau