„Frauen dürfen nicht zu Geiseln des Krieges werden“ – ein Interview mit der ukrainischen Anwältin Larysa Denysenko über Kriegsvergewaltigungen durch russische Besatzer

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Immer mehr Fälle von Vergewaltigungen an Frauen und (auch sehr kleinen) Mädchen durch die russischen Besatzer in der Ukraine werden bekannt. Ich durfte mit der Anwältin Larysa Denysenko darüber sprechen, ob es sich hier um Einzelfälle handelt oder ob eine Strategie dahinter steckt, wie es den Frauen und Mädchen in der Ukraine geht und vor allem: was wir jetzt tun können, um unsere Schwestern in der Ukraine zu unterstützen.

  1. Huschke Mau: Liebe Larysa, bitte stell Dich den Leserinnen vor: wer bist Du, wo lebst Du und was ist Dein Beruf?

Larysa Denysenko : Mein Name ist Larysa Denysenko, ich bin Rechtsanwältin, Feministin, ich engagiere mich für Frauen und Kinder, die Gewalt ausgesetzt sind. Ich trete gegen Diskriminierung jeglicher Art ein, halte Vorträge und leite Fortbildungen. Zudem schreibe ich Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, ich bin als Radiomoderatorin (Hromadske Radio) tätig. Ich wurde in Kyjiw geboren, lebe und arbeite hier.

2. Huschke Mau:  Wie sah Deine Arbeit vor dem Krieg aus, was hast Du getan?

Larysa Denysenko : Vor dem Krieg bereitete ich einen Vortrag zu Frauenrechten im IT-Bereich vor, ich war auch zu einem Gespräch über Kultur mit Fachleuten aus der Strafverfolgung eingeladen worden, ich führte mehrere Prozesse gegen häusliche Gewalt, ich vertrat die betroffenen Frauen. Zudem plante ich eine Vorlesungsreihe für regionale Polit-Aktivistinnen zu den Hintergründen der häufigen Diskriminierung weiblicher Stimmen, wie man als Frau mit den Medien über Frauenrechte spricht, und allgemein wie man eine Anwaltskanzlei zum Schutz von Frauenrechten führt. Insgesamt sollten über hundert Zuhörerinnen sollten meine Kurse besuchen.

3. Huschke Mau:  Du hast einen Aufruf in den Sozialen Medien gemacht, dass sich Frauen und Mädchen, die von den russischen Besatzern vergewaltigt wurden, bei Dir melden können. Bitte erzähle uns von dem Aufruf und warum Du ihn gestartet hast.

Larysa Denysenko : Unsere juristischen Grundlagen zur sexuellen Gewalt gegenüber Frauen stammen aus Friedenszeiten. Der Krieg erfordert sie anzupassen. Ausübung sexueller Gewalt durch die Okkupanten ist ein Kriegsverbrechen. Es ist äußerst wichtig, den Frauen das zu erklären. Sie müssen sicher sein, dass sie, erstens, von niemandem diffamiert werden oder von gar ihrer Mitschuld geredet wird. Zweitens müssen sie selbst entscheiden, wann sie ihre tragischen Geschichten erzählen, wann sie sich an ein Gericht wenden. Drittens, und das ist am wichtigsten, dass die Frauen in Sicherheit sind und die nötige Unterstützung erhalten, dass ihre Privatsphäre respektiert wird, ihre persönlichen Daten, und damit niemand ihren Kindern Schaden zufügt. Doch es fällt mir immer schwerer zu sagen: Ja, ich verstehe Sie, ich weiß, wie man damit umgehen muss, ich bin bereit Ihnen zuzuhören, ich werde Sie unterstützen, informieren und juristischen Beistand leisten.

4. Huschke Mau: Was ist passiert, nachdem dieser Aufruf viral gegangen ist? Kontaktieren Dich die betroffenen Frauen und Mädchen? Wie sieht Deine tägliche Arbeit jetzt aus?

Larysa Denysenko : Die Überlebenden kommen zu mir, zurzeit laufen vier Verfahren. Journalisten wenden sich an mich, dabei ist es wirklich schwierig, ein so sensibles Thema zu erklären – in Theorie und Praxis. PsychologInnen, ÄrztInnen und AnwältInnen wenden sich an mich, denn es ist wichtig, dass wir uns untereinander austauschen und abstimmen, um den Frauen und Mädchen nicht zu schaden. Ich verarbeite Informationen, die ich von internationalen Experten erhalte, ich bilde mich fort, teile mein Wissen mit KollegInnen.

5. Huschke Mau: Wie viele Frauen und Mädchen haben sich an Dich gewandt und was erzählen sie Dir?

Larysa Denysenko : Ich bin Anwältin und halte mich an die Schweigepflicht, deshalb werde ich auch keine, ja nicht einmal anonymisierte Details, mitteilen oder erzählen, was diese Frauen durchgemacht haben. Aber ich kann rein hypothetisch: Stellen Sie sich also vor, dass Karlsruhe von einer feindlichen Armee eingekesselt wurde, die Okkupanten sind bereits in der Stadt. Sie erschießen einfach so Menschen auf der Straße, richten Männer, Frauen und Kinder hin. Sie kommen in ihre Häuser, rauben, was sie wegschleppen können. Und Sie sitzen im Keller. Die können Granaten in den Keller werfen. Die können in den Keller kommen. Sie haben kein Wasser, es gibt kein Licht, das Handy hat kaum Empfang. Es ist eisekalt, Sie versuchen ihr Kind zu trösten. Vor ihren Augen wurde sein Vater ermordet, oder der Bruder, ihr Ehemann – alles Zivilisten. Sie werden bedroht. Sie haben furchtbare Angst. Sie haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Sie wissen gar nicht mehr, wie lange Sie schon in diesem Keller sitzen, wann Sie zum letzten Mal etwas gegessen haben. Auf den nackten Rücken der Tochter schreiben Sie Matrikelnummer ihrer Geburtsurkunde, ihren Namen, der Vater ist schon tot ist und Sie haben Angst, dass man Sie auch umbringt, das Kind muss eine Überlebenschance haben. In diesem Keller können die mit Ihnen machen, was sie wollen. Einer, zwei, mehrere. Wenn die es wollen. Und die werden es machen. Ich glaube, es ist überflüssig irgendwelche Details anzuführen. Wir haben alle verstanden. Mariupol hält sich einen Monat, wir wissen nicht, welches Ausmaß die Kriegsverbrechen dort noch annehmen werden. Butscha wurde befreit, Borodjanka wurde befreit – die Informationen, was dort geschehen ist, sind frei zugänglich. Es ist ein Genozid. Die Stadt Cherson und das Gebiet Cherson sind derzeit von den Russen besetzt, es wird ständig geschossen, humanitäre Korridore werden blockiert, Menschen verschleppt.

6. Huschke Mau: Wer sind die Täter und in welchen Situationen finden die Vergewaltigungen statt, wie sind sie einzuordnen?

Vergewaltigung ist immer Gewaltausübung, Demütigung und Machdemonstration. Ich stimme der Botschafterin Großbritanniens in der Ukraine zu, die sagte, dass die Vergewaltigungen ukrainischer Frauen und Kinder durch Russen eine Waffe ist, System hat, eine Tradition ihrer Kriegsführung, gezielter Terror gegen eine friedliche Bevölkerung.

7. Huschke Mau: Deiner Meinung nach, handelt es sich bei den Vergewaltigungen durch russische Besatzer um Einzelfälle oder sind sie systematisch, steckt eine Strategie dahinter?

Larysa Denysenko : Ich habe allen Grund zur Annahme, dass die Vergewaltigungen nicht das Verhalten einzelner oder nur einer Gruppe von Soldaten sind. Nein, es ist die Ausführung einer Kommandorichtlinie, Befehle, schriftlich oder mündlich, die zu befolgen sind, die Gewöhnung an eine „normale“ Praxis, befohlen von der obersten russischen Militärführung.

8. Huschke Mau: Werden diese Vergewaltigungen dokumentiert? Ist es seine Option, diese Fälle in Den Haag vorzulegen?

Larysa Denysenko : Zurzeit werden all diese Kriegsverbrechen gemäß den UN-Protokollen dokumentiert, jeder Fall wird geprüft, jede Stimme wird gehört, jede Aussage wird aufgenommen und überprüft. Jeder Fall wird untersucht werden, dafür wurde eine spezielle Website der Generalstaatsanwaltschaft eingerichtet. https://warcrimes.gov.ua/

9. Huschke Mau: Was wünschst Du Dir von der deutschen Außenpolitik und besonders von unserer Außenministerin Frau Baerbock, die explizit den Wert einer feministischen Außenpolitik betont hat?

Larysa Denysenko : Es fällt mir gerade jetzt schwer, die eine mögliche Außenpolitik Ihres Landes zu konzipieren. Aber in der Vergangenheit erfuhren Deutsche, Zivilisten in deutschen Städten und Dörfern, Frauen und Mädchen brutale sexuelle Gewalt sowjetischer Truppen. Und das ist noch gar nicht so lange her. Als ich all das las, tat mir das weh. Es ist tatsächlich so, dass die „Heldentaten“ der sowjetischen Literatur ein verzerrtes Bild der „Befreiung“ Deutschlands zeigten. Ich weiß, dass Sie jeden Fall von Gewalt untersucht haben, und Sie verstehen den Schmerz jeder geflohenen Ukrainerin, die in Deutschland missbraucht wurde, jeder Insassin eines Konzentrationslagers, und jeder deutschen Frau, die von den russischen Befreiern vergewaltigt und getötet wurde. Frauen dürfen nicht zu Geiseln des Krieges werden.

Für uns Ukrainerinnen wäre wichtig von deutschen Politikern zu hören, dass sie bereit sind, ihre inneren Drachen loszuketten, wenn sie diese Geschichten hören. Und dass sie bereit sind, der Ukraine Angriffswaffen zu liefern, denn das würde die weitere Okkupation unmöglich machen und unsere Befreiung beschleunigen – und es wäre die Rettung der Frauen und Mädchen vor der russischen Gewalt. Wir wollen von euch hören, dass jedes Leben, jeder gesunde Körper und jede gesunde Seele wichtiger sind als Gas und Energie aus Russland. Vielleicht möchte ich Sie auch um professionelle gerichtsmedizinische Unterstützung bitten, weil unsere Gerichtsmediziner an ihre Grenzen gekommen sind, weil zu viele getötet wurden und weiterhin werden, und jeder tote Körper hat das Recht hat, die an ihm begangene Gewalt aufzuklären.

10. Huschke Mau: Liebe Larysa, was können wir Frauen in Deutschland tun, um euch Frauen und Mädchen in der Ukraine zu unterstützen?

Wenn Regierungen sich nur zurückhaltend äußern oder gar schweigen, dann müssen die Menschen sprechen, die diese Regierungen an die Macht gebracht haben. Die Hauptsache ist jetzt, nicht zu schweigen, sondern Druck auf die Regierung ausüben, damit die Ukraine unterstützt wird. Es müssen Mittel zur Verfügung gestellt für die Unterstützung und Rehabilitation von misshandelten und missbrauchten Frauen und Mädchen. Zeigen Sie Schwesterlichkeit und Solidarität, denken Sie an uns, wenn Sie sich an die Öffentlichkeit wenden, wenn Sie mit den Medien über verschiedene Themen reden, dann lenken Sie die Blicke auf uns, schauen Sie ins an: Wir sind ganz in der Nähe, wir werden getötet. Handeln Sie, setzen Sie sich ein, damit auch wir ein Recht auf Leben haben. Vergesst nicht die Frauen, die alten Menschen und die Kinder, die sich nun vorübergehend als Flüchtlinge in Ihrem Land aufhalten.

11. Huschke Mau: Gibt es Pläne, eine Organisation zu gründen, die vergewaltigten Frauen hilft oder ein Dokumentationszentrum, um die Fälle von Kriegsvergewaltigungen durch russische Besatzer zu sammeln? Wenn ja, wie können wir unterstützen?

Larysa Denysenko : Die ukrainische Gesellschaft und der Staat arbeiten derzeit daran, dass alles funktioniert, wie es soll. Hier ziehen die Justiz, die Abgeordneten und die Menschenrechtsorganisationen an einem Strang, es gibt viel Arbeit und wir stehen erst am Anfang, alle notwendigen Instrumente zu schaffen, aber wir arbeiten hart. Doch wir brauchen Zeit. Die wird durch umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland gewährleistet und anderseits, wenn wir mit Angriffswaffen, schwerer Artillerie, Waffen mit mittlerer und großer Reichweite ausgestattet würden.

12. Huschke Mau: Liebe Larysa, ich wünsche Dir Nerven aus Stahl und ein unzerstörbares Herz bei all dem Schmerz, den Du gerade siehst. Danke für alles, was Du tust. Gibt es noch etwas, das Du uns sagen möchtest?

Larysa Denysenko : Vielen Dank für die guten Wünsche und die Unterstützung. Ich möchte Ihnen noch sagen, was am schwersten ist. Es ist fast unerträglich, keine Zukunft zu sehen. Ich bin ein Mensch dessen Kalender oft ein Jahr im Voraus mit Terminen gefüllt war. Und jetzt kommt es manchmal vor, dass ich keine Perspektive für den nächsten Tag sehe. Ich bitte wirklich und einfach zu verstehen, dass Ihr alle in Deutschland mit jeder Entscheidung, jeder Unterstützung auch mir helft, eine Zukunft zu sehen und zu leben.

Das Interview führte: Huschke Mau

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Alexander Kratochvil

Foto: Larysa Denysenko

Bist Du JournalistIn und möchtest Larysa Denysenko mehr Reichweite geben? Kontaktiere sie: denysenko.larysa@gmail.com

Der Aufruf von Larysa Denysenko findet sich hier: klick mich