Ich liebe Akte X. Ich habe es schon als Kind geliebt, es heimlich zu sehen. Ich habe Dana Scully geliebt und Fox Mulder und ich habe es geliebt, in Grauen vor den Ufos, Werwölfen und Poltergeistern im Fernsehsessel zu erstarren, auch, wenn ich danach jedes Mal Angst davor hatte, nach dem Einschlafen von Aliens entführt zu werden. In der Tat habe ich nach jeder Sendung meinen Teddy aus dem Bett gekickt. Denn ich fürchtete, er würde mit hinaufgebeamt, wenn ich entführt würde. Und was wäre, wenn die Außerirdischen mich zwar zurückbeamen würde auf diese Erde, ihn aber oben im Ufo vergäßen? Dann müsste ich leben in dem Wissen, dass mein Teddybär irgendwo im All herumschwebt, unerreichbar von mir getrennt. Für immer.
Neulich habe ich mir wieder Folgen über Folgen von Akte X reingezogen. Und dabei ist mir etwas aufgefallen. Ihr kennt doch das Poster, das in Agent Mulders Büro hängt, oder? Jede und jeder kennt es.
Über dieses Poster hatte ich mir nie so konkret Gedanken gemacht. Ich hab immer gemeint, Agent Mulder hätte es aufgehängt, weil er eben gern an Ufos und solche Dinge glauben möchte. Und als ich herumgefragt habe in meinem Bekanntenkreis, kam raus: das denken irgendwie alle. Du auch?
Nun, dann habe ich heute Neuigkeiten für Dich. Denn es gab in einer der ersten Staffeln, die ich mir gerade wieder zu Gemüte geführt habe, eine Szene, in der erklärt wird, was das Poster bedeutet. Und ich wette, das hast Du, genau wie ich, bisher übersehen und überhört.
In der Szene spricht Agent Mulder darüber, wie er als Kind Zeuge einer Entführung seiner kleinen Schwester durch Außerirdische wurde, und wie traumatisierend das war. Er erzählt, was für einen Schock das bei ihm ausgelöst hat, wie sehr es ihn verändert hat und vor allem, wie hilflos er sich immer noch fühlt. Denn er kann nichts tun, er kann ihr nicht helfen. Er weiß nicht mal, wo sie ist, nur, dass die Außerirdischen sie haben. Und er sagt, dass er unbedingt glauben möchte, dass sie es gutmeinen mit ihr, weil er sonst durchdrehen würde. Er will das unbedingt glauben. I want to believe.
Jeder und jede, der oder die die Sendung sieht, WEISS, dass die Aliens es nicht gut meinen. Agent Mulder handelt vollkommen gegen die Realität und gegen jede Ratio. Und trotzdem hab ich ihn sofort verstanden.
Denn das, was Agent Mulder tut, ist etwas, dass sehr oft geschieht.
Zum Beispiel in Familien, in denen sexueller Missbrauch an Kindern vorkommt. Und wo Familienmitglieder das ahnen oder sogar wissen, aber nichts tun oder sagen. Weil es zu schrecklich wäre. Weil sie dann handeln müssten. Aber nicht wissen wie, und sie fürchten sich, und sie fühlen sich aufgeschmissen und klein, und die Konsequenzen sind so unabsehbar groß. Deswegen wollen sie glauben, dass alles gut ist. I want to believe.
Oder bei Nachbarn, die mitbekommen, dass eine Frau in der Nachbarschaft von ihrem Mann geschlagen wird. Sie hören die Schläge und Schreie und das Gerumpel, sie sehen das blaue Auge der Frau am nächsten Tag. Sie tun nichts. Nicht immer aus Gleichgültigkeit oder weil sie das richtig finden. Sondern oft auch, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen. Weil es sehr, sehr unangenehm wird, wenn rauskommt, dass ausgerechnet sie es waren, die die Polizei gerufen haben. Weil sie dann vielleicht selbst vom Täter bedroht sind. Deswegen wollen sie glauben, dass das nur ein Streit ist, ein leidenschaftlicher, ein harmloser. I want to believe.
Oder in Familien, in denen Kinder geschlagen werden. Stell Dir mal vor, jemand aus Deiner Familie, den Du sehr liebst, schlägt seine Kinder. Und ein Kind deutet Dir das an. Wie hin- und hergerissen Du wärst. Wie tief Dir das Herz schmerzen würde. Wie Du Deiner Wahrnehmung nicht trauen würdest. Wie Du es nicht glauben wollen würdest. Deine ganze Welt würde doch zusammenbrechen, wenn Du annehmen müsstest, das wäre wahr. Viele Menschen entscheiden sich in dieser Situation dafür, die Wahrheit zu ignorieren. Und glauben lieber, das Kind würde lügen. I want to believe.
Der Mechanismus ist immer derselbe. Und es liegt eben nicht immer daran, dass all dies Menschen wären, die zu feige für die Wahrheit sind. Oder die gern Tätern glauben und sie schützen. Sondern es liegt daran, dass das schlimmste, das traumatisierendste, was ein Mensch empfinden kann, Hilflosigkeit ist. Totale Ohnmacht. Deswegen ist es manchmal auch stärker traumatisierend, zu erleben, wie geliebte Menschen getötet, verstümmelt, misshandelt oder vergewaltigt werden als dies selbst zu erleben. Es mitansehen zu müssen, aber nichts tun zu können, das ist das entsetzlichste Gefühl, das es gibt. Es trifft einen tief im Inneren und reißt dort alles auf.
Ist man selbst betroffen und wird gequält oder missbraucht, benutzt man nachher oft einen anderen Mechanismus, um die erlittene Hilflosigkeit zu umschiffen. Zum Beispiel kann man sich sagen: „Ich hab ja mitgemacht.“ Oder: „Ich war ja selbst schuld.“ Oder „Ich habe das verdient.“ Auch wenn es nicht stimmt, aber so kann man vermeiden, im Nachhinein nochmal die verzweifelte Hilflosigkeit zu fühlen, die man während der Tat spürte.
Muss man mitansehen, wie es anderen (geliebten) Menschen geschieht, geht das eben nicht so leicht. Ja, man kann sich hinstellen und dann auch sagen: „War ja verdient.“ Und manche machen das auch und halten sich so das Gefühl des Grauens und des entsetzlichen Schreckens vom Leib, das zu fühlen ihnen solche Schmerzen bereiten würde.
Aber die meisten Menschen gehen eben direkt in die Leugnung.
Es ist nicht passiert.
Es ist nicht so schlimm.
Es war nicht so gemeint.
Es war ganz anders.
I want to believe.
Und wisst ihr was? Dieser Mechanismus findet nicht nur in Familien und im sozialen Nahfeld statt.
Sondern so geht unsere ganze Gesellschaft mit Männergewalt und mit Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungs um.
Deutschland schlägt seine Kinder: im Jahr 2023 zählte die Polizei 3.443 Fälle von Kindesmisshandlungen. Und das ist nur das Hellfeld, das sind die angezeigten Fälle. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
Im Jahr 2020 wurden 152 Kinder in Deutschland gewaltsam zu Tode gebracht. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
2022 wurden in Deutschland 15.500 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt, nur in Deutschland. Und das Dunkelfeld ist riesig. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
2023 gab es in Deutschland laut Polizei 256.276 Opfer häuslicher – also partnerschaftlicher, ehelicher – Gewalt, die meisten Opfer sind Frauen. Und das sind nur die angezeigten Fälle. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
2023 gab es in Deutschland 12.200angezeigte Fälle von Vergewaltigungen. Das Dunkelfeld? Enorm. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
2020 wurden in Deutschland 406 Fälle von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gerichtlich festgestellt. Das BKA sagt selbst: Das Dunkelfeld ist unüberschaubar, und das hier ist nur ein winziger Bruchteil. Aber wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
Es ist das alte Lied: Wegschauen. Leugnen. Ignorieren.
Um den Schmerz und das Mitleid nicht zu fühlen.
Um Verzweiflung und Betroffenheit nicht zu fühlen.
Und um die schreckliche Hilflosigkeit nicht zu fühlen: denn die Gewalt gegen Frauen und Mädchen (und Jungs), sie scheint übermächtig zu sein. Unbekämpfbar. Unbesiegbar. Eine Hydra, der 10 Köpfe nachwachsen, wenn man einen abschlägt. Und man bringt sich selbst in Gefahr damit: denn dann fühlt man den Schmerz, aber wird man ihn aushalten? Wird man jemals wieder wegsehen können, wenn man einmal hingesehen hat – muss man dann für immer alle Gewalt sehen und allen Schmerz fühlen, den es gibt auf dieser Welt? Und kommt man dabei vielleicht um?
Ich gebe Agent Mulder Recht. Er kann nicht sagen: „Ja, es ist so, meine kleine Schwester wurde von Außerirdischen entführt, sie schwebt da im All rum und die machen vermutlich schlimme, schmerzhafte Experimente in diesem Raumschiff mit ihr, und ich kann nichts tun. Gar nichts.“
Er kann das nicht sagen. Die Hilflosigkeit und die Verzweiflung würden ihn umbringen. Er muss weiter sagen: „I want to believe.“
Aber wir. Wir müssen das nicht. Wir dürfen das nicht.
Denn erstens: wir können nur etwas verändern – die Gesellschaft, die Welt -, wenn wir zuerst realisieren und anerkennen, was ist. Das ist der erste Schritt. Zu sagen: ja, da steht ein Elefant im Raum. Und der macht hier das Porzellan kaputt.
Und zweitens findet die Gewalt, die diese Gesellschaft so gern nicht wahrhaben möchte, eben NICHT im All statt. Weit weg. Wo man wirklich nichts tun kann. Sondern hier, bei uns, auf der Erde. Auf unserem Kontinent, in unserem Land, in unserer Stadt, vielleicht im Nebenhaus.
Und das Nebenhaus ist nicht das All.
Und der Puff im Nachbardorf mit den rumänischen Zwangsprostituierten drin ist kein Raumschiff.
Und das Kind in unserer Familie, das uns merkwürdige Sachen erzählt, wird sich nicht morgen weggebeamt haben und alles ist wieder prächtig.
Was ich damit sagen will: ich kenne und verstehe den Mechanismus, zu leugnen.
Ich habe ihn auch selbst erlebt, in meiner Familie, im Bordell, in der Gesellschaft.
Wird schon nicht so schlimm sein. I want to believe.
So ändert sich nichts, und ich glaube aber, wir können etwas ändern. Ich glaube, die tiefe Hilflosigkeit, die wir empfinden beim hören und mitansehen dieser bösen Dinge lügt uns an. Wir können nichts tun? Oh doch. Wir können was tun. Und hinsehen ist der erste Schritt.
Und ja, die Hilflosigkeit wird uns weiter anlügen. Sie wird sagen: es ist nicht genug, was Du tust. Du bist so klein. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist so groß. Sie ist überall. Sie ist stärker als Du.
Kann sein.
Aber wenn ich glauben kann, das alles „nicht so schlimm“ ist, kann ich auch glauben, dass mein, dass dein, dass euer, dass unser Hinsehen und Handeln etwas bringt.
Und dann kann ich auch glauben, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder KEIN übermäßiger Gegner ist.
Sondern bekämpfbar.
Besiegbar.
Abschaffbar.
I want to believe.
Wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem gar die GANZE GESELLSCHAFT sich zum hinsehen zwingen wird? Gar handeln und einen Sieg erringen wird?
Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Aber die Wahrheit ist irgendwo da draußen.
(c) Huschke Mau