Gestern war ich auf einer Konferenz betreffend Prostitution. Und wie immer habe ich danach mit gemischten Gefühlen im Zug gesessen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich tu mein Bestes. Es ist ein Einerseits-Andererseits.
Als ich angefangen habe, öffentlich und mit meinem unverdeckten Gesicht zu sprechen, hatte ich meinen Studienabschluss schon in der Tasche. Ich habe meine Bachelor- und meine Masterarbeit über Prostitution geschrieben (und für beides eine 1 bekommen). Hätte ich nie, niemals darüber geredet, dass ich auch persönliche Erfahrungen in der Prostitution habe, könnte ich heute unter meinem Klarnamen und als die Wissenschaftlerin, die ich bin, auf Podien und in Talkshows sitzen.
Stattdessen habe ich mich entschieden, öffentlich zu machen, dass ich eben auch ehemalige Betroffene bin. Und damit hat sich alles geändert. Einfach alles.
Denn von da an war ich „die Exprostituierte“, die „ihre Geschichte erzählt.“
Das sind zwei Sachen, die sehr weit in die Geschichte hineinreichen. „Die Exprostituierte“, also die Bereitschaft, eine Frau komplett auf ihre Prostitutionserfahrung zu reduzieren und sonst nichts von ihr zu erwähnen, keine Leistung, keinen Abschluss, keinen Beruf, geht auf den Mythos der „geborenen Prostituierten“ zurück. Man findet ihn noch im Kaiserreich, im Dritten Reich, in DDR und BRD – und auch heute: die Vorstellung, es gäbe Frauen, deren CHARAKTER, es sei, Prostituierte zu sein. Dass es nicht an den Umständen liegt, sondern an den Frauen selbst. Dass sie als Prostituierte geboren sind und also für immer auch Prostituierte sein werden, aber sonst können sie nichts sein, höchstens noch „Exprostituierte“. Dass die meisten Frauen nur eine Zeitlang in der Prostitution sind, dass sie immer auch etwas anderes sind (Mutter, gelernte Kindergärtnerin, Sammlerin von Postkarten, Verkäuferin, Juristin, was auch immer) wird damit kategorisch ausgeschlossen.
„Geborene Prostituierte“ können zwar aufhören, sich zu prostituieren, aber danach kommt nichts mehr. Denn sie kann ja nichts anderes. Prostituierte zu sein, das ist ihre ganze Identität. Und natürlich ist das dann auch ihre ganze Expertise. Es ist nicht wichtig, ob sie ihre Bachelor-, ihre Master-, ihre Doktorarbeit über Prostitution geschrieben hat, ob sie Bücher mit 400 Fußnoten publiziert. Sie ist Exprostituierte. Ihre Expertise besteht daraus, „ihre Geschichte zu erzählen“. Das ist alles, was sie kann. Keinesfalls kann sie: sich ein paar kluge Gedanken zu Prostitution machen, Gesellschaftsanalyse betreiben, schlaue Texte schreiben, wissenschaftlich forschen, Studien und Statistiken lesen oder sonstwas. Was sie kann, ist „von ihrem Schicksal zu berichten“, und so wird sie auch angekündigt werden. Das Schlimmste, was bei mir mal in einer Veranstaltungsankündigung stand, war: „eine namenlose Prostituierte erzählt grauenhafte Details aus ihrem traurigen Leben“. Ich dachte, ich spinne. Neben mir auf der Veranstaltung saßen übrigens Frauen, die auch einen Uniabschluss hatten. Die wurden als „die Expertinnen“ angekündigt. Als Wissenschaftlerinnen.
Warum erzähle ich das?
Weil ich mittlerweile merke, dass ich gegen diese Demütigungen immer sensibler werde. Dass ich immer mehr Abwehr dagegen habe, Veranstaltungsanfragen anzunehmen. Dass mein Magen dagegen rebelliert. Dass ich es hasse, fast jedes Mal um Respekt kämpfen zu müssen. Ja, es ist kompliziert. Ich bin zweigeteilt. Unter meinem Klarnamen arbeite ich in meinem Beruf, ich forsche und publiziere wissenschaftlich. Und als Huschke Mau kläre ich über Prostitution auf. Und beides kann ich nicht zusammenführen, weil es zu gefährlich für mich wäre. Ich habe keine Lösung dafür.
Und das ist natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die sich ihrer eigenen Vorurteile hinsichtlich Frauen in der Prostitution nicht mal bewusst sind. Die mir erzählen, sie müssten mich in ihren Texten als „die Exprostituierte“ und sonst nichts bezeichnen, weil das „das Wichtigste und Besondere an dir ist, Huschke“. Als wäre es das wichtigste und besonderste an mir, dass mir sexuelle Gewalt angetan worden ist, was zur Hölle.
Worauf will ich hinaus? Das soll kein Beschwerdetext werden. Ich schreibe ihn, weil mir gestern auch wieder aufgefallen ist, wie erstaunt ich jedes Mal bin. Denn natürlich sprechen mich Menschen an. Und jedes Mal, wenn mir eine Frau sagt: „Ich hab ein Interview mit dir gelesen und dann dein Buch, und du hast meine Meinung über Prostitution total umgedreht“, bin ich fassungslos. Und noch erstaunter bin ich, wenn betroffene Frauen auf mich zukommen. Und mir sagen: „Dein Buch zu lesen, hat mir beim Ausstieg geholfen. Ich hab erst gedacht, du spinnst. Dann hab ich dir zugehört, immer wieder, und ich habe mich zum ersten Mal verstanden gefühlt.“ Das ist das ergreifendste an dieser Arbeit überhaupt. Ich schaue die Frauen an und denke: Kann nicht sein, das ist ein Missverständnis. Unfassbar, dass das wirklich hilfreich ist, was ich tu. Unfassbar, dass es wirklich Leben, Herzen und die Politik bewegt.
Und gestern kam eine Frau und sagte, sie möchte jetzt öffentlich über ihre Prostitutionserfahrung sprechen.
Und ich habe während der ganzen Zugfahrt drüber nachgedacht.
Und ich möchte ihr hier sagen: überleg Dir das gut.
Überleg Dir das gut, ob Du mit Deinem Gesicht da rausgehst. Egal, ob unter Pseudonym oder nicht, es wird heftig werden.
Du wirst viel bewegen, Du wirst Menschen bewegen, auch gesellschaftliche Kämpfe, aber Du wirst von da an gedemütigt werden.
Du wirst als Expertin auf Veranstaltungen, im Fernsehen, in politischen Gremien sitzen, aber danach werden die Zeitungen schreiben: „die Exprostituierte hat ihre Geschichte erzählt“. Männer werden dir ungefragt mitteilen, dass sie dich niemals f*cken würden oder dass sie dich gerne v*ergew*ltigen würden. Manche Menschen werden dir kein Wort glauben. Du wirst auf Podien sitzen und „die Betroffene“ sein, deren Aussagen von „den Expertinnen“ eingeordnet werden müssen, denn Du kannst ja nicht selber denken, analysieren oder kluge Sachen sagen. Denn Du wirst „die Exprostituierte“ sein, eine Frau, die nur f*cken kann, und wenn sie das nicht mehr tut, kann sie höchstens noch davon berichten, wie es war, aber denken kannst du nicht, denn wir alle wissen, nur dumm f*ckt gut, also musst du dumm sein, denn das sind Prostituierte ja immer, sonst wären sie ja auch nicht in der Prostitution gelandet.
All das wird geschehen, sie werden sich mit all ihren Abschlüssen, Berufen und Titeln vorstellen und dich als „die Betroffene“, deren Mut zu sprechen ihre einzige Expertise ist. Egal wer du bist. Egal was du sagst.
Die Demütigung, die du in der Prostitution erlebt hast, war eine Angelegenheit zwischen dir und dem Freier. Ohne Zeugen.
Aber an der Demütigung, die kommen wird, wenn du öffentlich sprichst, werden viele teilnehmen, und alle werden sie sehen.
Meine Lieblingsfeministin, Andrea Dworkin, hat mal gesagt, dass das Verhalten, Gewalt an Frauen zu benennen und dagegen vorzugehen, mit einem Preisschild kommt. Mit Demütigung, mit Drohungen, mit Lächerlichmachung. Dass man das wissen muss, bevor man aktiv wird: man wird einen Preis dafür zu zahlen haben.
Andrea Dworkin hat gesagt: „I know there is a price. And I am willing to pay. I WILL PAY THE PRICE. Because it´s worth it.“
Was Du jetzt tun sollst? Ob Du öffentlich sprechen sollst? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Den Preis zu zahlen ist es definitiv wert. Für all die Frauen und Mädchen, und auch für Dich.
Aber er ist hoch, sehr hoch, und sehr persönlich. Und Du wirst ihn jeden Tag, jede Nacht wieder zahlen.
© Huschke Mau
P.S.: Foto: Das Foto ist von einer früheren Veranstaltung in Mannheim, nicht von gestern. Und ich meine auch nicht die Veranstaltung von gestern. Bei der hab ich nur zugehört, und nicht gesprochen, und sie war gut!