Keine Heldin, kein Vorbild. Und spricht trotzdem. Warum nur.

    Heute ist ein schlimmer Tag, schlimme Tage, schlimme Nächte. Ich bin überarbeitet, Doktorarbeit, Aktivismus, zusätzlich der übliche Kram. Mein letzter Urlaub war vor 12 Jahren oder so. Ich kann die Flut an Nachrichten, die ich bekomme, nicht mehr bewältigen, sie haben eine solche Masse, sie fließen einfach über mich. Und dann noch dieser schlimme Todestag, der mir bevorsteht und der mir so derbe in den Bauch tritt, das die Tränen überall fließen, auch auf der Straße, in der Kaufhalle, in der Bibliothek. Es läuft einfach in meinem Leben. Tränentechnisch jetzt.

    Heute Nacht habe ich wieder wachgelegen, ich hatte Angst. Angst, mir mein Leben versaut zu haben, indem ich öffentlich spreche.

    Angst, irgendwann all diese hässlichen und gemeinen Kommentare und Nachrichten im Internet nicht mehr zu ertragen. All die widerlichen Dinge, die geschehen, wenn man mich im realen Leben erkennt, und die eine Zusatzbelastung sind zu den Ekelhaftigkeiten, mit denen Frauen sich sowieso auseinandersetzen müssen (wie z.B. auf einem Heimweg von gerade mal 800 Metern nachts um 12 insgesamt 4x belästigt zu werden, so geschehen gestern).

    Angst, diesem Druck nicht mehr standzuhalten, dieser Furcht davor, geoutet zu werden, aber auch dieser Bedrängnis, ständig überall auf Prostitution angesprochen zu werden, von völlig Fremden, die glauben, sie müssten mir jetzt mal richtig hart die Meinung zu meiner Meinung sagen, und egal wo ich bin, ich würde ihnen diese Auseinandersetzung jetzt schulden. Oder diejenigen Menschen, die alles an mir auf Prostitution reduzieren, und wenn ich weine, dann muss es wegen Prostitution sein, wenn ich gnatzig bin, muss es wegen Prostitution sein, und wenn ich erschöpft bin, muss es wegen Prostitution sein. Weil alles an mir Prostitution sein muss, nichts mehr Doktorarbeit, unter richtigem Namen veröffentlichte Texte und Bücher, Katzenbebis, bescheuerter Humor, umkippende Bücherstapel sein darf.

    Angst, dass all diese Schlimmheiten, dieser Hohn, die Bedrohungen, Beschimpfungen in mich hinein-, aber nie wieder aus mir herausfallen werden.

    Angst vor dieser toxischen Kultur, die wir mit dem Internet entwickelt haben, und die nach Gründen sucht, nach Fehlern sucht, die Menschen gemacht haben, um sie dafür fertigzumachen, öffentlich zu beschämen und rauszukicken aus der „Gemeinschaft“.

    Ich bin weder Heldin noch Vorbild noch perfekt. Ich habe so viele Fehler gemacht, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Ich habe so viele Dinge gesagt, die ich heute bereue, die ich von meinem damaligen Standpunkt – also traumatisiert, in Gewaltverhältnissen, süchtig und in prekären Verhältnissen – aber einfach nicht besser wusste, weil ich mir emotional, mental und kräftetechnisch eine politische Bewusstseinsbildung gar nicht leisten konnte. Meine Vergangenheit ist nicht die eines netten, sauberen, bürgerlichen Mädchens, das von finsteren Mächten in die Prostitution gezogen wurde. Da, wo ich herkomme, war es gewalttätig, duster und asozial. Und die Scham sitzt tief.

    Eigentlich ist das alles zu schlimm und zu dreckig, um an die Öffentlichkeit zu gehen.

    Ich habe es trotzdem getan.

    Und nachts, wenn ich wachliege und Angst habe, frage ich mich oft, warum. Und dann denke ich, weil es anders gar nicht geht. Könnte ich all die Dinge tun, die ich tu, ohne über das zu sprechen, was mir passiert ist, was vielen Frauen passiert hier in Deutschland, auf der Welt, überall einfach, täglich, stündlich, minütlich, hinter verschlossenen Türen, aber auch auf offener Straße?

    No way. Ich würde ersticken.

    Also raus damit.

    Sprechen. Analysieren. Spenden sammeln und sie an Frauen geben, die sich damit einen Ausstieg und einen Neustart leisten können. Vorträge halten, bei denen ich immer wieder angekeift werde, beleidigt werde, als „Exprostituierte“ abgewertet und reduziert werde, während einfach mal unter den Tisch fällt, dass auch ich ein abgeschlossenes Studium habe (und mehrfach publiziert habe).

    Die Kommentarspalten unter den Interviews mit mir, Abfallgruben der Gesellschaft.

    Mein Posteingang, der mich schon lähmt, wenn ich mich nur einlogge.

    Die Nächte voller Angst.

    Das Erkanntwerden auf der Straße vor meiner eigenen Haustür.

    Die sensationsgeile Nachfrage eines Exkollegen, der mich erkannt hat im Fernsehen. „Ich wusste ja gar nicht, dass du mal Nutte warst, soso.“

    Die schlimmen Kommentare von Männern, wenn sie erfahren, dass ich mal in der Prostitution war.

    Ich bin keine Heldin, ich habe nicht das Mindset dazu. Eigentlich bin ich weder mutig noch tapfer noch gefestigt und erst recht nicht selbstsicher genug für das, was ich hier tue. Mir gehen die Reaktionen und Konsequenzen, die das für mich hat, auch einfach nicht genug am Arsch vorbei. Ich bin keine Heldin, ich tu, was ich tu, nicht strahlend und lächelnd und unberührt von der Häme und den Beleidigungen, die mich dafür treffen.

    Im Gegenteil.

    Ich hab Angst, ich fühl mich bedroht, ich fühl mich beschämt, ich fühl mich hässlich, reduziert, abgewertet und oft, so oft, auch überfordert.

    Und dann Dienstag noch der Todestag, ich weiß auch nicht, ich habe einfach das Gefühl, ich sterbe vor Verzweiflung und Trauer. Und der Stapel an gebügelten Blümchentaschentüchern in meiner Schublade wird stündlich kleiner.

    Alles zu viel.

    Warum tu ich das noch?

    Ich kann einfach nicht anders. Kann mit der Ungerechtigkeit, dass Männer Frauen kaufen dürfen, einfach nicht leben. Will eine andere Welt haben.

    Das ist alles, was dahintersteckt.

    Da ist so viel Zerbrechlichkeit und Angst und Furcht und Scham und Überforderung und Tränenlaufenlassenmüssen gerade, und es ist so viel, und ich fühle mich ganz klein und schutzlos und getroffen von einer Welle, die mich unter sich begräbt.

    Das einzige, das mir aus dieser Spirale raushilft, ist der Gedanke, dass ich eines Tages mein Handy in den Fluss werfen und weggehen werde, an diesen Ort, den nur ich kenne, und an dem alles heiß ist. Die Ähren auf dem Feld und das Fell meiner Katzenbebis und die Sonne auf der Haut und auf der Erde und der Sand in meinen Schuhen. Und um dieses Haus herum ist ein goldenes Feld, und darum ein smaragdgrüner Wald, in dem ein Hühnergotthünengrab liegt, und es führt kein Weg an diesen Ort und keiner heraus, weil ein Schutzkreis mich unsichtbar machen wird für die Welt und alles, das in ihr ist und das keine vier Beine oder zwei Flügel hat.

    Stille.