Warum ist der Ausstieg aus der Prostitution so schwer?

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Ab und zu werde ich gefragt, was denn den Ausstieg aus der Prostitution so schwer mache. Ich habe mehrere Jahre für den Ausstieg gebraucht, bin immer wieder zurück in die Prostitution – und es geht nicht nur mir so. Was den Ausstieg so schwer macht, ist die Komplexität der Problemlage. Als ich damals zu einer Beratungsstelle für Prostituierte ging um um Hilfe für den Ausstieg zu bitten, sagte man mir: „Wenn Sie das nicht mehr machen wollen, dann gehen Sie doch einfach nicht mehr ins Bordell!“ Aber so einfach ist es eben nicht.

Prostituierte haben meist sehr schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht. Nicht selten sind sie sogar deswegen in der Prostitution. Wer wie ich erlebt hat, wie leicht es ist, durch das soziale Netz in Deutschland zu fallen, der weiss, an wen er sich bzgl. Hilfe nicht mehr wenden muss. Bei mir war es so, dass das Jugendamt, als ich von Zuhause abgehauen bin, mir unterstellte, ich sei gar nicht wegen der Gewalt weggegangen, sondern weil ich „zu wenig Taschengeld“ bekommen hätte. Die Hilfe, die ich nur auf Grund der engagierten Mitarbeiterinnen einer Mädchenzuflucht bekam, endete viel zu früh: Mit der Volljährigkeit ist hier Ende Gelände. Dass das für eine massiv traumatisierte Erwachsene, die keinerlei Kontakt mehr zu ihrem Elternhaus hat und null Unterstützung erfährt und die zudem mittellos ist, eine schwerwiegende Situation ist, wurde nicht beachtet. Bei uns in der Mädchenzuflucht hatten wir ein Mädchen, das zu uns kam, weil sein Vater es immer und immer wieder vergewaltigte. Das Jugendamt setzte beide zu einem „Konfrontationsgespräch“ zusammen, um „darüber zu reden“. Der Vater gab alles zu, entschuldigte sich, und das Jugendamt meinte: „Siehste, er hat sich doch entschuldigt, er wird es nicht wieder tun, kannste doch wieder nach Hause gehen.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dieses Mädchen wird sich nie wieder an eine offizielle Stelle wenden, wenn es Hilfe braucht. Sozialamt, Bafögamt, Arbeitsamt, Wohngeldstelle, same. „Nicht zuständig“, endlose Verschleppungen von Anträgen, dumme Sprüche. Bafögamt: „Wenn Ihre Eltern den Antrag nicht unterschreiben wollen, werden Sie schon was falsch gemacht haben. Meistens liegt das an den Kindern. Haben Sie schonmal darüber nachgedacht, sich bei den Behörden zu entschuldigen?“ Wohngeldstelle: „Wir bearbeiten Ihren Antrag schon seit fast einem Jahr, Sie bekommen Bescheid. Wie, Sie können die Miete nicht mehr zahlen? Naja, also, wenn Sie keine Wohnung mehr haben, haben Sie auch keinen Anspruch auf Wohngeld, da können wir ja aufhören mit der Antragsbearbeitung.“  Ich kenne Prostituierte, die wollen aus der Prostitution aussteigen, aber das Arbeitsamt verweigert ihnen die finanzielle Unterstützung und droht ihnen, wenn sie im Bordell kündigten, eine dreimonatige Sperre an, denn sie hätten doch einen Job. Andere versuchen auszusteigen, bekommen aber nicht den vollen Satz ALG2, weil ihnen das Amt unterstellt, sie arbeiteten heimlich weiter und hätten sicher Einkünfte – die sie, obwohl herbeiimaginiert, knallhart anrechnen. Wer auf Grund solcher Sachen in der Prostitution landet oder dort bleibt, für den ist Prostitution keine „freie Entscheidung“, sondern eine Wahl zwischen zwei ungewollten Alternativen (verhungern / obdachlos werden oder anschaffen) und somit ein Dilemma.

 

Die Beratungsstellen, die in Deutschland Ausstiegshilfe offerieren, sind meist nicht auf Seiten der Prostituierten. Mimikry in München feiern ihren Geburtstag mit der Escortagenturbesitzerin Stephanie Klee und sind also betreiberfreundlich. Der Leiter des Gesundheitsamtes mitsamt Beratungsstelle in Dresden tritt auf Pro-Prostitutionsveranstaltungen als Redner auf und verherrlicht auf seiner Homepage Prostitution als tolle Chance für behinderte und andere Freier. Kassandra in Nürnberg behaupten, Gewalt in der Prostitution sei selten und man dürfe nicht von einer „Risikogruppe“ reden, da man die Prostituierten ansonsten stigmatisiere und sie Gewalt aussetze. Das, obwohl seit dem Prostitutionsgesetz 2002 allein in Deutschland über 70 Prostituierte ermordet worden sind. Die meisten Beratungsstellen sprechen von „Sexarbeit“, machen Einstiegs- statt Ausstiegsarbeit (wie Hydra in Berlin) und behaupten, das größte Problem der Prostituierten sei „das Stigma“, aber nicht die „Arbeit“. Ich kenne Frauen, die sich an solche Beratungsstellen gewendet haben mit der Bitte um Ausstiegshilfe, und denen gesagt wurde, der Job sei nicht das Problem, sondern sie, und sie sollten sich doch einfach innerhalb der Prostitution umorientieren: wäre Escort was für sie, oder SM? Oder andere Praktiken vielleicht? Wendet man sich an solche Beratungsstellen, bekommt man nicht nur keine Hilfe, sondern wird auch noch beschämt.

 

Ein weiteres Problem sind die fehlenden Alternativen. Es schaut jobtechnisch eh nicht so sonderlich rosig aus in Deutschland. Wer da Vorstrafen wegen prostitutionsnaher Delikte hat (wie z.B. „arbeiten“ im Sperrbezirk, Drogen,…) oder wer Lücken im Lebenslauf hat, die sich auch bei schönster Bastelei nicht leugnen lassen, der hat es schwer. Hinzu kommt, dass Frauen, die jahrelang in der Prostitution waren, keine oder wenig Berufserfahrung vorweisen können, manchmal auch keine Ausbildung haben. Bleiben: Jobs mit hoher Stundenzahl und Mindestlohn. Wer frisch aus der Prostitution kommt, der hat meist mit Traumafolgestörungen zu kämpfen, heisst: mit permanentem Stress. Und kann das unter Umständen nicht lange aushalten. Und wenn immer und immer wieder Geld fehlt, macht man eben, was man kann und kennt und schafft an. Sich für angemessene Jobs zu bewerben, dafür hat keine Prostituierte, die ich kenne, mehr das Selbstbewusstsein.

 

Überhaupt: das Trauma. Die meisten Prostituierten leiden an Posttraumatischer Belastungsstörung in der Qualität derer von Folteropfern. Sie leiden an Angststörungen, an fehlendem Selbstbewusstsein, an Zwängen – z.B. an Waschzwängen oder an der zwanghaften Wiederholung sinnloser Rituale, die vermeintlich Sicherheit schaffen sollen. (Ich muss dauernd auf Holz klopfen, wenn ich angstbesetzte Gedanken habe. Und die habe ich oft. Kann ich das nicht tun, folgt eine Panikattacke. Ich weiss, wie bescheuert das für Außenstehende ausschaut und dass es am Ende sinnlos ist, aber ich kann nicht anders.) Als ich vom Bordell zum Escort wechselte, war ich nicht mehr gewöhnt, am Tag rauszugehen. Ich konnte das Tageslicht nicht aushalten. Und all die vielen Leute nicht. Wem täglich und stündlich die Grenzen verletzt wurden, der kann sich mitunter nicht mehr in der Nähe von Menschen aufhalten, weil das innere Alarmsystem ständig signalisiert: „Das ist ein Mann, Gefahr!“ Davon, wie es ist, „draußen“ zu sein und getriggert zu werden und Flashbacks zu haben, will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Albträume und andere Schlafstörungen machen müde. Es ist fast unmöglich, die Fassade aufrecht zu erhalten und in ein „normales Leben“ zu wechseln. Man fühlt sich zudem „anders“ als die Anderen, minderwertiger, verletzter. Kaputt. Menschen sind einem unheimlich, die „normalen“ Menschen erst recht, denn sie führen einem vor Augen, wie man nicht mehr ist: ohne Sorgen, ohne Verletzungen, ohne Ängste. Ganz. Nett. Gut drauf. – Um die Prostitution zu ertragen, muss man sich vom eigenen Körper abspalten (Dissoziation). Das Problem ist, man kann danach eben nicht einfach wieder reinschlüpfen. Der Körper bleibt ohne Kontakt zur Seele, zur Psyche. Man fühlt sich einfach nicht mehr. Ich hab mehrere Jahre gebraucht um zu lernen, dass das, was ich manchmal fühle, Hunger ist. Und das man dann was essen sollte. Oder dass das, was ich gerade empfinde, zeigt dass ich friere. Und dass man sich dann wärmer anzieht. Es ist mühsam zu lernen oder wieder zu lernen, dass der Körper Bedürfnisse hat, ihn zu fühlen, und noch mühsamer, sich in „selfcare“ zu üben. Nicht mehr so scheisse mit sich selbst umzugehen. Sondern zu schlafen, wenn man müde ist – weil man nicht in einem 24 Stunden Bordell hockt und den nächsten Freier machen muss. Dass man nicht mehr frieren muss – weil man nimmer am Straßenstrich steht bei Minustemperaturen. Dass man Situationen, die Schmerzen verursachen, ändern kann, statt den Schmerz wegzumachen – mittels Dissoziation, Drogen oder Alkohol. – Aber so leicht entlässt das Trauma einen nicht: denn man gewöhnt sich dran. Das Phänomen nennt sich „trauma bonding“: und das ist auch der Grund dafür, warum Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden immer wieder zurückgehen. Traumatische Situationen können abhängig machen, denn es wird dabei viel Adrenalin ausgeschüttet – und das macht süchtig. Zudem ist für Menschen, die so viel Gewalt erlebt haben wie sie in der Prostitution stattfindet, eine Gewaltsituation etwas, was sie kennen. Ich habe von klein auf erlebt: da, wo ich Angst habe, wo mir Schmerzen zugefügt werden, wo ich abgewertet werde, da gehöre ich hin. Das ist Zuhause. Deswegen habe ich bis heute damit zu kämpfen, mich in Situationen die mich gefährden dagegen zu entscheiden und wegzugehen. Sie sind scheisse, aber sie sind mir bekannt und vertraut. Situationen, in denen Menschen nett zu mir sind, nicht schreien, nicht schlagen, nicht missbrauchen, sind mir unheimlich. Ich fühle mich prompt minderwertig. Meine Seele signalisiert: „Hier stimmt was nicht. Das ist fremd.“ Prostitution ist wie selbstverletzendes Verhalten. Nein, Prostitution IST selbstverletzendes Verhalten.

 

Ein großes Hemmnis beim Ausstieg sind außerdem die Süchte. Viele Prostituierte knallen sich zu, mit Drogen, mit Alkohol, mit Zigaretten, weil sie anders nicht funktionieren können. Das entwickelt irgendwann ein schönes Eigenleben und prompt hat man ein Problem mehr an der Backe.

 

Therapiemöglichkeiten für ehemalige Prostituierte sind schwer zu finden. Einen Therapieplatz zu ergattern kostet sowieso Zeit und Nerven, hinzu kommt, dass viele TherapeutInnen nicht anerkennen, dass Prostitution Gewalt ist. (Über Therapie schreibe ich mal einen eigenen Text.)

 

Wie die TherapeutInnen hat die ganze Gesellschaft Probleme damit, Prostitution als etwas anzusehen, dass schadhaft ist, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die einzelne Prostituierte. Auszusteigen aus der Prostitution, wenn „da draußen“ vermittelt wird, Prostitution sei etwas ganz normales, für das man mit Riesenplakaten an Hauptstraßen werben kann, mit dessen Werbung man Taxen zukleistern darf, und in Artikeln immer wieder Begriffe wie „Sexarbeiterin“, „Menschen, die Sexdienste anbieten“ zu lesen, ständig mit Texten konfrontiert zu werden, die Prostitution verharmlosen oder gar hypen, das macht was mit einem. Von den Leuten, die sich bemüßigt fühlen, ehemalige Prostituierte, die sich trauen öffentlich zu sprechen, unter deren Artikeln als „dreckige Hure“, „geldgeil“ oder „low life“ zu bezeichnen mal gar nicht zu reden. Wer aussteigt und  dann zu hören bekommt, man sei „selber schuld“, habe „schlechte Entscheidungen getroffen“ oder lüge, der kann auch gleich in der Prostitution bleiben, denn entwertet wird man dort auch.

 

Gestörte Selbstwahrnehmung und extrem niedriges Selbstwertgefühl isolieren die meisten Prostituierten von ihrer nichtprostitutiven Umgebung. Nach Jahren im Milieu kennen die meisten Frauen eben auch nur noch Menschen, die in diesem Leben. Es ist wie eine Parallellwelt. Und manchmal, da kommt sie einem auch vor wie „die Wahrheit“. Denn man hat kein Vertrauen mehr zu seinen Mitmenschen, vor allem nicht mehr zu Männern. Man weiß ja jetzt und hat am eigenen Leib erlebt, wozu sie fähig sind und was also von der bürgerlichen Fassade „da draußen“ zu halten ist. Denn Freier rennen ja nicht nur im Milieu rum, sondern auch „da draußen“, in der „normalen“ Welt. Nur ist es dort eben so, dass man als (ehemalige) Prostituierte dort nicht nur von ihnen beschämt wird, während die Freier eben nicht beschämt oder zur Verantwortung gezogen werden. Da kann man auch gleich in der Prostitution bleiben: da ist es quasi wenigstens ehrlich, Gewalt gegen Geld, alle wissen, was man tut, tun dasselbe, die Regeln sind vertraut, die Mechanismen ebenso.

 

Keine, auch keine deutsche Prostituierte, die ich kenne, hätte zudem beim Versuch den Club zu wechseln oder ein Bordell zu verlassen KEINEN Stress bekommen. Ablösegeld ist usus, Einschüchterungen und Drohungen folgen. Eine deutsche Kollegin, die aus dem Bordell verschwinden wollte, hatte noch ein Jahr danach den Bordellbetreiber, der sie immer vergewaltigt hatte, an den Hacken. Er schlitzte ihre Autoreifen auf, stand plötzlich in ihrer Wohnung, bedrohte ihren Freund, klärte ihre Eltern darüber auf, als was sie ihr Geld verdient hatte. Er gab erst Ruhe, als er die Ablösesumme von 3.000 Euro bekommen hatte. (Diese Summe wird gern verklärt als „Schulden, die die Prostituierte gemacht hat“. Gemeint sind: Strafgelder fürs Zuspätkommen, für Zimmer, die nicht aufgeräumt sind, für abgelehnte Freier, „Ausfallgelder“, Mieten für das Zimmer das sie angemietet hatte und das sie zahlen musste auch wenn sie keine Freier gehabt hatte oder krank gewesen war usw.). Von den „Partnern“ der Prostituierten, die auch was davon haben, dass diese anschaffen gehen, fang ich jetzt gar nicht erst an.

 

Da habe ich jetzt immer noch nicht die ausländischen Prostituierten in die Betrachtung mit einbezogen, die kein deutsch sprechen, die aus ihren Herkunftsländern nur eine korrupte Polizei kennen (von der ich unsere hier aber auch nicht ganz freispreche…), die nicht einmal theoretisch Zugang zu den Sozialleistungen hier haben, die keine Krankenversicherung haben oder die Woche für Woche in eine andere Stadt und in ein anderes Bordell verschoben werden und nicht einmal wissen, wo sie überhaupt sind.

Und selbst wenn sie es wüssten: Wohin sollten sie sich wenden?

Der deutsche Staat stellt keine Hilfen. Er überlässt den Kommunen die komplette Finanzierung der Umsetzung des Prostituiertenschutzgesetzes und sorgt damit dafür, dass diese dafür sorgen dass Freier weiter reibungslos ihrem mehr oder weniger lustigen Treiben nachgehen können. Aus diesem lustigen Treiben schöpft er die Steuern ab und verdient sich damit dumm und dusslig.

Da lässt sich halt schonmal die Frage stellen, ob der Staat überhaupt ein Interesse daran hat, zu verhindern, dass Frauen und junge Mädchen in der Prostitution landen oder Prostituierten beim Ausstieg zu helfen. Er KANN es ja gar nicht haben!

 

 

© Huschke Mau, Juni 2017