Etwas, über das man nicht spricht: Suizidgedanken.

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Ich habe es schon zu Beginn des Shitstorms gefühlt. Und es überrascht mich auch nicht.

Als die Antilopengang rappte: „Wenn eine Influencerin sich umbringt, ist Oli Pocher schuld, und seine ganzen Kumpels“, da hab ich noch gedacht: „Absolut,an deren psychische Lage denkt nämlich keiner dieser shitstormenden, mit Hasspostings mobbenden Fans“.

Ich hab nicht gedacht: „Du. Da geht es auch um Dich.“

Das war mir ganz fern. Warum? Dieses Angehasstwerden hat bei mir keine Suizidgedanken entstehen lassen. Es hat sie aber wieder hervorgekramt.

Die ersten beiden Tage und konnte ich weder schlafen und essen. Statt Blut flossen Stresshormone durch meine Adern. Nachts konnte ich nicht schlafen, bei mir lagen die Gedanken „es wäre besser, du wärst nicht mehr da“ und „ich schaffe das nicht, ich bin zu müde, ich kann nicht mehr“.

Suizidgedanken.

Hallo. Da sind wir wieder.

Es ist viel. Es ist immer viel. Es ist die Dissertation, es ist der Aktivismus, der mal locker eine unbezahlte Halbtagsstelle ist, es ist die Trauer, die noch schmerzt, als wärst Du gestern gestorben. Es ist die zusätzliche Corona-Isolation und es ist der Shitstorm. Es überrascht mich also nicht. So viel Hass. So viel Angriff. Das kenne ich, seit ich mich als Exprostituierte für die Abschaffung der Prostitution einsetze. Und als ehemals misshandeltes Kind gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Immer viel Gegenwind. Aber das hier war eher so eine Art… Tornado. Die Masse machts.

Tausend Mal am Tag gesagt zu bekommen, bestätigt zu bekommen, was man schon immer heimlich über sich selber denkt, das ist ganz schön grausam. Dass man fett ist und hässlich. Dumm und widerlich. Nur zum abwichsen gut. Und dass man sterben gehen soll.
Im Prinzip das, was mein mich halbtot prügelnder Stiefvater gesagt hat.
Im Prinzip das, was die mich vergewaltigenden Freier gesagt haben.
Im Prinzip das, was ich mir seit meiner Kindheit selber sage.

Geh sterben.

“Geh sterben” sitzt ganz schön tief. Und es ist wieder wach.

Ich habe ein bisschen damit gerechnet, denn ich lebe seit Jahren im Overload.

Ich war nie unbeschwert. Eine der ersten Erinnerungen, die ich habe, ist, der Vergewaltigung meiner Mutter zuhören zu müssen.

Ich kenne keinen Zustand, in dem nicht irgendwas drückt. Im Hintergrund. Ganz tief in mir. Es ist die Todesangst, die mir in meiner Kindheit reingeprügelt worden ist. Mehrere Versuche meines Stiefvaters, uns, seine Familie, umzubringen. Eine Todesangst, die mit jedem Freier, den ich später hatte, eine Verfestigung erlebt hat. Manchmal war es wie eine Erleichterung, zu sehen, dass die reale Situation zu der Bedrohung in meinem Kopf passt: ah, Todesangst. Kenn ich. Wusste ich es doch, dass jetzt was Schlimmes passiert!

Es ist ein Gefühl, als wäre alles, was schön ist, Fake. Als stünde man als einziger Mensch auf dieser Welt inmitten eines schönen Frühlingstags, alle freuen sich, und nur man selber spürt: da kommt was auf uns zu. Was Schlimmes.
Und dieses Gefühl ist immer da. Meine Seele ist nie leicht. Sie ist immer schwer.

Ich bin nie ganz da. Ich kenne es nicht, ganz in mir selbst zu sein und ganz im Moment zu sein. Ich fühle mich wie ein Alien, entfremdet von allem, von Menschen, der Welt und mir selbst. Ich komme irgendwie nicht richtig ran an mich, an andere, an die Welt. Denn in meinem Kopf läuft permanent ein anderer Film. Manche denken, ich wäre ein Mensch, aber ich weiß, seit ich klein bin, dass ich keiner bin. Sondern irgendwas anderes, etwas sehr minderwertiges, etwas, ohne Daseinsberechtigung. Aber an manchen Tagen schauspieler ich gut. Schau, ein Mensch! Wie die anderen! Aber ich kenne die Wahrheit, und sie kommt nachts um drei, wenn man aufwacht und diese fiese Stimme im Kopf einem die Wahrheit sagt.

Ich habe es kommen sehen, ich bin seit Jahren chronisch überarbeitet. Die Dissertation, bis vor einigen Jahren auch Existenzängste, der Aktivismus, der Stress, die ständigen Angriffe. Die Posttraumatische Belastungsstörung, die Depression, die Angst. Und dass alles ohne Dich, weil Du ja gestorben bist. Ich kann es immer noch nicht fassen. Du bist früh mein erster Gedanke und abends mein letzter.

Das ist alles ein ganz schön schwerer Rucksack.

Der Shitstorm hat mich voll erwischt, ich stehe nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Denn ich erlebe seit 11 Monaten einen Trauerschmerz, der so heftig ist, dass mein Herz nur noch stolpert. Und aussetzt. Und manchmal wünsche ich mir, dass es stehenbleibt. Dann wäre ich entweder bei Dir, oder ich würde wenigstens nicht mehr spüren und wissen, dass Du tot bist. Und das wäre auch gut.

Ich bin in einem Kreislauf gefangen, der sich über Jahre und Jahrzehnte manifestiert hat. Der Kreislauf heisst: Du hast nur eine Daseinsberechtigung, wenn Du was leistest. Der Kreislauf heisst: sobald Du nachlässt, sobald Du anhältst, sobald Du Pause machst, ist das tiefe, schwarze Loch da.

Hallo, Suizidgedanken. Treue Begleiter seit meiner Kindheit.

Mein Herz ist angeknackst, seit Du tot bist, und ich spüre, dass alles rausläuft. Einfach alles durchläuft. Nichts Schönes bleibt drin, es fällt durch mein Herz durch und läuft unten wieder raus. Ich laufe aus und es kommt nicht genug Neues nach. Nicht genug Schönes. Nicht genug Freude. Kann man mit einem gebrochenen Herzen überhaupt Freude empfinden?

Ich bin gerade an einem sehr, sehr dunklen Ort. Es ist nicht schön da. Und ich kann nicht einfach weggehen. Das Gefängnis ist in meinem Kopf, und egal, was ich tue, ich weiß, ich werde es nie ganz los werden.

Ich will Dich einfach nur zurück, Du warst meine Sonne in einem Universum voller Chaos.

Ich werde es wieder machen wie immer.

Ich werde sagen: ich tu es nicht. Und mich daran halten.

Sollen die Gedanken vorüberziehen wie Wolken.

Ich werde mir sagen: ich tu es nicht, weil ich hab Geschwister, die ich sehr liebe. Die auch genug gelitten haben. Die sowas nicht erleben sollen.

Und dann werde ich mir klarmachen: wenn ich mich eh am Leben lassen muss, und wenn eh alles scheissegal ist, kann ich ja auch das Schöne mitnehmen. Macht man ja so, wenn man was tun muss und es nicht ändern kann: versuchen, das Positive zu sehen.

Mit Dir ging das gut. Noch in der größten Bedrohung und im schlimmsten Chaos konnte man sich mit Dir vor der Welt in verzauberten Brombeerhecken verstecken.

Das geht jetzt nicht mehr. Und es gibt keinen Trost dafür, einfach keinen. Nichts macht das besser.

Heute ist Sonntag. Es war der erste Tag seit knapp einem Jahr, an dem ich nicht wusste, was ich tun soll. Keine rettende to-do-Liste hatte. Keinen straffen Zeitplan. Fuck this shit. Es wird mir nicht wieder passieren.

Morgen früh werde ich aufstehen, ich werde ein Interview geben, ich werde 7 Stunden an der Diss schreiben, ich werde mich abends auf meine Traumatherapie am nächsten Tag vorbereiten. Ich werde alles tun, wie es auf meiner To-Do-Liste steht.

Aber glaub mir, es fällt mir gerade schwer, und ich weiss nicht, wofür.

„Weil es auf deiner To-Do-Liste steht“, das ist die Antwort, mit der ich jetzt sicher noch ein paar Wochen und Monate leben muss. Denn wenn sich ein Tod durch das eigene Leben gewühlt hat, ist da erstmal kein DAFÜR da auf die Frage WOFÜR.

Weil es auf der Liste steht.

Das ist ein bisschen wenig.

Und ich habe große Angst vor der Nacht.

Suizidgedanken. Ich kenne euch gut. Eigentlich kenne ich kaum eine Zeit ohne euch. Ich weiss, man kann mit euch leben. Irgendwie geht das. Aber gerade wäre es schön, wenn ihr vielleicht wenigstens eine kleine Brombeerhecke für mich hell lassen könntet.

(c) Huschke Mau