Eigen- und Fremdwahrnehmung bei Mädchen und Frauen mit sexuellem Trauma

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(Oder: Wenn Du auch immer denkst, Menschen, die Dich toll finden, irren sich und begehen einen fatalen Fehler, dann ist das hier für Dich.)

Am Wochenende kam auf den Social Media Kanälen einer ZDF-Sendung ein 5-minütiges Videostatement von mir zu meiner Zeit in der Prostitution. In der Kommentarspalte wurde so gut moderiert, wie ich es noch nie gesehen habe. Zwar wurden gegenteilige Meinungen natürlich stehengelassen, aber sämtliche Beleidigungen und persönlichen Angriffe gegen mich wurden gelöscht. Ausserdem gab es ein megalanges Interview mit mir in der Noizz, das sehr sehr persönlich war, und ich habe fast nur positive Rückmeldungen bekommen.

Das hat mich in eine tiefe Identitätskrise gestürzt – ich saß heute früh heulend bei meiner Traumatherapeutin (eine Frau, die ich außerordentlich liebe) und habe sie gefragt, ob es sein kann, dass ich eine Psychose und mir meine ganze Geschichte nur ausgedacht habe und ob es sein kann, dass ich Leute anlüge. Klingt irre? Lass mich kurz erklären. Wenn Du ein sexuelles Trauma, egal ob durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit, Vergewaltigung später oder Prostitution erlebt hast, wirst Du das kennen.

Ich bin Aktivistin für Frauen- und Mädchenrechte und für die Abschaffung der Prostitution. Ich werde täglich angegriffen (und auch bedroht). Und plötzlich waren da am Wochenende nur noch Antworten auf meinen Beitrag in der Kommentarspalte, die positiv waren. „Du bist so mutig“, „du bist so klug“, „du hast das so gut erklärt“, „was für eine schlimme Geschichte, ich wünsche dir alles Gute“, „du bist ein echtes Vorbild“.

AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAaH!!!!

Bitte aufhören.


Meine Reaktion darauf hat mich selber überrascht. Den anstatt mich zu freuen, fing ich plötzlich an, mich von mir und meiner Geschichte total entfremdet zu fühlen. Das ging soweit, dass ich gar nicht mehr wusste, wer ich bin und wie ich bin. Und ich habe mir meine eigene Geschichte nicht mehr geglaubt. Und fing an, zu argwöhnen: hat das wirklich alles stattgefunden? Die Leute sind so erstaunt darüber, dass Dein Stiefvater Dich als Kind fast umgebracht hat. Und sie finden unglaublich, dass Dein erster Zuhälter ein Polizist war. Und dass Du jetzt Doktorandin bist. Könnte es sein, dass das alles gar nicht passiert ist? Hab ich mir das vielleicht ausgedacht? Erzähle ich Dinge, die gar nicht wahr sind – ohne es zu merken? Habe ich vielleicht eine Psychose oder so?
Es gibt hier 2 Probleme, und ich habe sie jetzt durchdacht.
Erstens: Menschen glauben mir. Zweitens: Menschen denken irgendwie, ich wäre eine tolle Person.

Beides überfordert mich.

Dass Frauen und Mädchen, die sexuell missbraucht worden sind – egal ob für Geld oder ohne – ihrer Wahrnehmung nicht trauen, sich vom traumatischen Erlebnis abspalten und es dann als „fremd“ oder „unwirklich empfinden“, ist ja nichts neues. Auch mir kommen manche Dinge heute so vor, als hätte ich sie geträumt oder als wären sie nicht real. Dazu kommt, dass das Umfeld Mädchen und Frauen oft nicht glaubt. Bei mir war es so, dass in unserer Familie regelmäßig die Wahrnehmung der Opfer verdreht wurde. Ein paar Beispiele:

Wir sitzen am Kaffeetisch, die komplette Familie ist anwesend, inklusive meiner Großeltern. Mein Stiefvater sagt zu meiner Mutter: „Wenn DU nicht mit mir ins Bett gehst, nehm ich Deine Große ran.“ (Das bin ich.) Ich bin total geschockt, aber niemand reagiert. Es herrscht Schweigen. Der nächste Satz, der gesprochen wird, ist: „Kannst Du mir bitte mal den Zucker reichen?“

Anderes Beispiel. Ich gehe dazwischen, als mein Stiefvater wieder mal in wilder Wut auf meine Mutter einprügelt und werde dabei verletzt. Als ich später mit meinem blauen Auge an den Abendbrottisch komme, beschuldigen meine Eltern mich, ich würde „eine Fresse ziehen und allen die Laune verderben, und niemand weiß, warum“.

Oder wenn ich anderen Leuten gegenüber erwähnt habe, dass ich in der Prostitution vergewaltigt worden bin. Antwort, fast jedesmal: „Das kann gar nicht sein, du wurdest schliesslich bezahlt.“

Ja, einige Menschen haben mir geglaubt. Aber jetzt sind es plötzlich so viele. Das überwältigt mich total. So sehr, dass ich mir selbst nicht mehr glaube. Ich frage mich sogar: war es wirklich so schlimm? Oder habe ich mir das eingebildet? Und obwohl ich all das in meinen Tagebüchern (ich schreibe, seit ich 7 bin und habe ca. 100 Stück) nachlesen kann, und obwohl ich meine Geschwister fragen kann, die dabei waren, oder meine Puffkollegin, die ja auch dabei war, oder wen auch immer, obwohl ich das alles tun kann und auch tue, traue ich mir selber nicht. Denn Opfer sexuellen Missbrauchs haben gelernt, dass mit ihnen was nicht stimmt. Mit ihrer Wahrnehmung was nicht stimmt. Dass sie das Problem sind (weil sie sprechen). Und sie haben schon hundert Mal gehört: „du lügst“ oder „das kann gar nicht passiert sein“ oder “das glaube ich nicht, ich kenne ihn und er ist so ein netter Mann” usw.

Damit habe ich gerade heftig zu kämpfen.

Und dann: mir wird nicht nur geglaubt – Menschen finden mich gut. Oh weia. Das kollidiert so schrecklich mit meinem Selbstbild. Denn wenn so viele Menschen etwas Positives über einen sagen, man aber aus Kindheit und Prostitution heraus kennt, dass man behandelt wird wie Dreck und dass was mit einem nicht stimmt (man ist „schlecht“ ) und sowieso alles die eigene Schuld ist, dann kann man gar nicht mehr glauben, dass es wirklich Menschen da draußen gibt, die einen gut finden. Dann fragt man sich: warum tun die das? Wo kommt das plötzlich her? Habe ich denen unbewusst was vorgelogen? Schlimme Seiten von mir einfach nicht kommuniziert? Wie kann das sein, dass es Menschen gibt, die Dich gut finden, wenn das einzige, was Du empfindest, Schuld ist und Scham? Denn mit beidem letzteren ist es so: wer sexuell missbraucht wurde, empfindet immer Schuld und Scham. Und dann denkt man sich: naja, wenn ich das so empfinde, wird es schon einen Grund dafür geben, gell? Vielleicht bin ich ja wirklich schuld dran. Vielleicht bin ich ja wirklich schlecht.

Und die anderen sehe das nur gerade nicht. Das hier muss ein Missverständnis sein.

Denn ich bin weder Heldin noch Vorbild.

Die Wahrheit ist: ich bin eine unglaubliche Schisserin. Und ich bin null souverän. Sondern eigentlich dauerüberfordert. Meine Tage sind lang und voll, ich habe ständig das Gefühl, die Sachen die ich mache sind nicht gut genug, und abends baller ich mich, sobald ich Zuhause bin, mit Beruhigungsmitteln zu und gehe ins Bett, wo ich in aller Ruhe traurig und verzweifelt und beschmerzt sein und flennen darf, weil ich einen Todesfall von vor 14 Monaten nicht verpacke (und nie verpacken werde). Und oft habe ich Angst, fühle mich minderwertig und ohnmächtig und hasse Menschen.

Falls Du also eine Frau bist, die auch nicht abkann, wenn Menschen sie mögen und toll finden: ich bin bei Dir. Ich kenne Deinen Impuls, jetzt allen zu beweisen, dass Du aber sehr sehr wohl eine außerordentlich grauenvolle Person bist. Du möchtest eine Liste mit all Deinen Unzulänglichkeiten und Fehlern erstellen (und davon hat man ja genug), und ich möchte das auch. Angehasst und verachtet zu werden kennt man als Frau mit Missbrauchserfahrung nämlich gut. Wenn das plötzlich nicht mehr da ist, da kann einem schon mal mulmig werden.

Falls es Dir also auch so geht: Du bist nicht verrückt, es gibt auf dieser Welt noch andere, die so fühlen. Gemocht zu werden und geglaubt zu kriegen muss man auch erstmal aushalten. Und manchmal ist das ganz schön grauslich.

Aber das schaffst Du, Zähne zusammen und durch.
Und unseren Teil dazu können wir uns ja immer noch denken. 😉